Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
dem Nichts, mit eigener Kraft Geld zu drucken, das kaum einer von echtem Geld unterscheiden konnte.
Sechsundzwanzig Jahre ist das Ganze jetzt her, denkt er, und schon weiß kein Mensch mehr, wie großartig ich mal war, ich der ›Falsche Fünfziger‹. Das wird sich ändern, das verspreche ich euch allen.
Er schaut zum Ordner, der aufgeklappt vor der Wand liegt.
»Das wird sich ändern!«, sagt er zu ihm.
* * *
Während die mobile Einsatztruppe gerade in ihren Mannschaftswagen krabbelt und abfährt, trifft das Team der Spurensicherung ein, Hollmann mit vier Männern und einer Frau. In der Videothek wird es eng. Wer einen kurzen Blick auf die Leiche hinter dem Tresen werfen will, muss sich einreihen. Aber ein Blick reicht um zu sehen, dass der Tod gründliche Arbeit geleistet hat. Der Mann liegt ausgestreckt, quer zum Tresen auf dem Rücken. Er scheint einfach nach hinten gefallen zu sein. Der Tote trägt einen ausgefransten, aber sauberen Bundeswehrparka mit der deutschen Flagge an beiden Oberarmen. Beide Hände stecken in nagelneuen, dunkelbraunen Fingerhandschuhen. Die rechte Hand umklammert den Griff einer Waffe. Das rechte Ohr ist verbrannt und blutig.
»Das ist Hajo Peters!«, sagt Swensen zu Hollmann, während sich sein Team auf die übrigen Räume verteilt und fast lautlos mit seiner Arbeit beginnt.
»Wir wollten ihn verhaften und jetzt liegt er da!«
Hollmann hört aus Swensens Stimme etwas wie Ärger heraus.
»Sieht verdammt nach Selbstmord aus«, meint Swensen nach einer Pause an Hollmann gerichtet.
»Das soll der Polizeiarzt entscheiden!«, erwidert Hollmann. »Da misch ich mich nicht ein.«
»Aber da liegt etwas für dich!« sagt Swensen und deutet auf einen kleinen karierten Zettel. »Er hat anscheinend eine Nachricht hinterlassen.«
Hollmann verbiegt seinen Hals um die Schrift zu lesen.
»Da steht nur: ich halt das ›Ganze‹ nicht mehr aus«, kommt ihm Swensen zuvor. »Ganze kleingeschrieben. Mit Bleistift. Merkwürdig nicht?«
»Was ist daran merkwürdig? Dass jemand kein Deutsch kann?«
»Weniger, aber wer schreibt heute noch mit Bleistift?«
»Einige Dinge sind so wie sie sind!«, kommentiert Hollmann die Frage, streift sich Latexhandschuhe über und geht. Swensen guckt ihm verdutzt hinterher und verbucht seine Antwort als fatalistische Haltung.
Wahrscheinlich gewöhnen sich die Spurensicherer bei ihrer Arbeit so sehr daran, nur auf ihre Fakten zu achten, dass Interpretation für sie zu einem Fremdwort wird, denkt er und tastet die Leiche von Hajo Peters mit seinen Augen ab. Er glaubt nicht an Fatalismus. Alles hat einen Sinn, man muss ihn nur entdecken, ist sein Lebensmotto. Die Handschuhe sind aber schon merkwürdig, denkt er. Jemand will sich umbringen und zieht sich vorher Handschuhe an? Warum? Will er keine Fingerabdrücke hinterlassen? War ihm kalt? Wollte er die Hände schützen? Klingt alles bescheuert, wenn man mich fragt.
Er steht vor den Füßen der Leiche, macht einen Schritt zur Seite um sich die Schusswunde an der rechten Kopfseite noch einmal anzusehen. Das Ohr, eine Mischung aus verkrustetem Blut und rohem, verbranntem Fleisch, ist kaum zu erkennen. Ein Blutstrahl ist über den Tresen gespritzt. Überall feine Blutspritzer, selbst auf dem vermeintlichen Abschiedszettel.
Der scheint noch nicht all zu lange tot zu sein. Warum hat er nur nicht solange gewartet, bis wir ihn verhaftet haben, denkt Swensen und missbilligt im gleichen Moment seine hässlichen Gedanken.
Denken ist die Sprache unseres Geistes, predigt seine innere Stimme. Und weil Denken zum Handeln führt, müssen wir ›recht denken‹.
Er starrt auf den großen Blutfleck auf dem schmuddeligen Teppichboden.
Die Gedanken sind frei, setzt eine andere Stimme trotzig dagegen. Manchmal ist Swensen heilfroh, dass niemand seine Gedanken hören kann. Sein Blick schweift über die Wand hinter der Leiche. Auf einem Plakat erstürmt Milla Jovovich im Kettenhemd eine mittelalterliche Burg. Johanna von Orleans. Er hatte die zigfache Wiederverfilmung der besessenen Jungfrau vor nicht all zu langer Zeit gesehen. Großes Kino. Die schöne Milla wühlte sich puppenhaft durch ein glamouröses Gemetzel. Schöne Bilder, aber sonst nichts Neues. Am Ende stirbt sie wie immer, historisch vorgegeben, ihren Filmtod auf dem Scheiterhaufen. Jetzt liegt Hajo Peters ihr zu Füßen.
Ein Geräusch am Eingang lässt ihn aufschrecken. Neben Heinz Püchel kommt ein Mann mit einer Kamera in der Hand in den Raum, den Swensen vorher
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