Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
selben Zeit lösen konnten, denkt er. Doch ist der Fall Hajo Peters für mich wirklich gelöst?
Swensen sieht Peters wieder tot hinter dem Tresen liegen. So wie ich den kennengelernt habe, war der kein klassischer Selbstmordkandidat, denkt er und merkt, wie sich seine Gedanken im Kreis drehen. Er schaut auf die Uhr. Die Tagesthemen beginnen in wenigen Minuten. Er nimmt die Fernbedienung und schaltet den Fernseher an, als das Telefon klingelt.
Das kann nur Anna sein, denkt er, stellt den Ton mit der Fernbedienung leiser, nimmt den Hörer ab und meldet sich.
»Anna hier, hallo! Du, ich hab gerade mit meiner Mutter telefoniert und sie hat uns beide am Heiligabend zu sich eingeladen. Was hältst du davon, Jan?«
»Heiligabend? Mein Gott, Weihnachten! Das ist ja bald.«
»Noch elf Tage, mein Lieber!«
»Du Schreck, und ich hab noch kein Geschenk. Na, immerhin sieht es so aus, als ob es arbeitsmäßig langsam ruhiger wird bei uns. Also, sag einfach zu bei deiner Mutter.«
Anna Diete war allein mit ihrer Mutter in Garding aufgewachsen. Ihr Vater hatte sich gleich nach ihrer Geburt aus dem Staub gemacht und die Mutter mit dem Kind sitzen gelassen. Anna sah ihn am Anfang nur alle paar Jahre. Später brach sie den Kontakt ab.
»Prima!«, sagt sie mit freudiger Stimme zu Swensens spontaner Zusage. Erstaunlich, ohne ein Hintertürchen offenzulassen, denkt sie gleichzeitig und fährt fort: »Ich freue mich, dass wir alle zusammen feiern.«
»Aber vorher will Püchel sich noch feiern lassen. Der will den Erfolg der Polizeiinspektion Husum gerne der Presse zum Dinner servieren.«
»Sei froh, dann belastet dich dieser schreckliche Fall endlich nicht mehr.«
»Ich bin aber nicht froh darüber. Ich glaube irgendwie nicht an einen Fall, sondern eher an Fälle.«
»Jan, wer keine Arbeit hat, schafft sich welche.«
»Ich hab übrigens gestern mit Ruppert Wraage gesprochen.«
»Mensch, das ist ja toll, los erzähl.«
»Du weißt doch, Dienstgeheimnis!«
»Das ist unfair. Erst machst du mich heiß und dann machst du einen auf cool. Ist Ruppert Wraage denn irgendwie verdächtig?«
»Siehst du, da geht es schon los. Du darfst nicht mal wissen, dass ich mit ihm gesprochen hab.«
»Ich bin eben ein unverbesserlicher Storm-Fan und Wraage ist ein brillanter Storm-Experte …!«
»… dem nichts Besseres passieren konnte, als dass jemand das findet, was seine These bestätigt. Er ist der eindeutige Gewinner in dieser ganzen Sache.«
»Der Mann vertritt seine These schon über Jahre. Was ist daran verdächtig?«
»Nichts, nur dass jeder verdächtig ist. Im Gespräch stellte er sich so dar, als wenn er über den Dingen steht. Man merkte deutlich, wie sehr er sich schon in seinem künftigen Ruhm sonnt. Außerdem weiß ich aus meinen Ermittlungsgesprächen mit anderen, dass er ziemlich geldgierig auftritt.«
»Willst du jeden verhaften, der das tut?«
»Quatsch! Ich denke nur laut«, sagt Swensen. Weisheit im Umgang mit Tätern, schießt ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. »Mein Lehrer erklärte uns einmal«, wechselt er abrupt die Richtung des Gesprächs, »dass wir es sind, die unsere Wirklichkeit erschaffen. Im Moment bin ich da seiner Meinung. Ich glaube, ich will nur den Fall nicht abschließen. Meine Wirklichkeit soll unbedingt wahr sein. Ja, so ist er, unser Verstand. Er schmeichelt unserem Ego, indem er permanent Worte, Bezeichnungen, Konzepte, Wertungen und Urteile produziert. Er zieht und zerrt unaufhaltsam an einer scheinbaren Illusion, der Illusion, dass wir von allem getrennt sind.«
»Ruppert Wraage ist aber nichts dergleichen.«
»Auf meiner Ebene als Kriminalbeamter ist er natürlich real! Aber auf einer Ebene, die tiefer liegt als unsere körperliche Erscheinung und alle separaten Formen, sind wir mit allem eins. Auf der Ebene ist der Mörder, nach dem ich fahnde, eine Illusion! Mein Trick als Buddhist ist dabei, mich auf beiden Ebenen gleichzeitig zu bewegen, achtsam meinen Verstand zu benutzen und nicht von diesem benutzt zu werden. Sozusagen durch die Illusion hindurch den Zugang zur Wahrheit zu finden.«
»Langsam! Der Mörder ist eine Illusion. Aber in der Illusion steckt der Mörder?«
»Ich könnte es nicht besser ausdrücken, Anna. Ich versuche sozusagen um jeden alltäglichen Mordfall einen Tempel zu bauen.«
»Und was sagt Heinz Püchel zu deinen Bauarbeiten?«, fragt Anna schelmisch.
»Ich meditiere noch nicht vor seinem Büro«, entgegnet Swensen. Aus dem Augenwinkel sieht er neben der
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