Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
der weißen Tischdecke strahlend reflektiert werden. Sie frühstücken. Swensen denkt an Janina Eggers, an den Selbstmord ihres Peinigers und natürlich an Hajo Peters.
Es ist schon nach Mittag, als er mit Anna in seinem Polo kurz vor dem Eidersperrwerk nach links abbiegt. Hier beginnt das Naturschutzgebiet Katinger Watt. Diese verwunschene Kooglandschaft, die Swensen über alles liebt, wurde der Nordsee abgerungen und entstand 1973 nach der Fertigstellung des Eidersperrwerks. Heute ist sie Heimat tausender Seevögel, wie den Säbelschnäblern und den Austernfischern. Nach zirka zwei Kilometern fährt er an einer Straßenabzweigung nach links in Richtung Kating. Links liegt der Waldrand, rechts die flachen Felder, die ans Katinger Watt grenzen. Der Schnee strahlt in der Sonne wie das Tischtuch beim Frühstück. Die Straße macht einen Bogen nach rechts, es geht über eine Holzbrücke geradeaus auf Kating zu. Swensen steuert den Polo über den Außendeich und parkt ihn gleich am Anfang des Dorfes vor der alten Scheune eines stillgelegten Firmengeländes. Ab da gehen sie zu Fuß weiter. Der Atem dampft, während sie auf der Deichkuppe entlang spazieren. Auf der Koppel steht verstreut eine Herde Schafe. Den meisten hat man mit einer Spraydose einen roten Strich auf den Hintern gezogen.
Damit kennzeichnen die Bauern die Tiere, die schon gedeckt sind, denkt Swensen, muss sich aber eingestehen, dass er es nicht wirklich weiß. Er glaubt aber, es mal irgendwo gehört zu haben. Sein Blick schweift von oben über die verschneiten Wiesen, auf denen verstreut Heuballen verteilt wurden. Um diese scharren sich die Schafe und fressen. Swensen bemerkt plötzlich, wie die Augen aller Tiere aufmerksam an ihren Schritten kleben. Eine aberwitzige Situationskomik. Unmengen Schafe bilden ein Spalier, drehen, bis in alle Ewigkeit Heu kauend, ihre Köpfe von rechts nach links, während Anna und er im Vorbeigehen diese tierische Parade abschreiten. Jetzt einen kurzen Moment Schaf sein, denkt Swensen und grinst. Anna guckt ihn erstaunt an.
»Guck’ mal, wie die uns angucken. Man könnte annehmen, wir sind die Zoomenschen und sie die Besucher«, sagt Swensen.
Anne nickt kichernd. Ihre Nase ist von der Kälte gerötet. Ein quietschendes Geräusch lässt sie beide gleichzeitig herumfahren. Eine Formation Brandgänse fliegt aus Richtung Katinger Kirchturm über ihre Köpfe hinweg und landet schnatternd auf einem Acker.
Ich denke, die fliegen über Winter in den Süden?«, fragt Anna.
Swensen zuckt mit der Schulter: »Dachte ich auch immer. Aber die sind ja offensichtlich hier geblieben. Ich hätte mir das bei der Kälte sicher anders überlegt.«
»Mir ist auch kalt«, sagt Anna. »Ich finde wir sollten uns ein wenig beeilen. Um zwei Uhr macht Wilhelm auf und ich brauch’ unbedingt einen …«
»… Eiergrog?«
»Klar!«, nickt Anna und reibt die Handschuhe aneinander. In der Ferne können sie bereits die ›Schankwirtschaft Andresen‹ liegen sehen. Wilhelm Andresen, von seinen Gästen nur Wilhelm genannt, gehört zu den Eiderstedter Originalen und ist ein Zampano, der alle verbalen Taschenspielertricks perfekt beherrscht. Sein Motto: Fix oder nix, ist unter den Gästen ein geflügeltes Wort, und wer seine Jacke nicht vorschriftsmäßig an der Garderobe aufhängt, bevor er die Räume der Wirtschaft betritt, lernt die verschmitzte Quasselstrippe von seiner rigorosen Seite kennen. In seiner Gaststube ist er der Dompteur, der die täglich einfallende Löwenmeute problemlos auf die Sitze verteilt und ihr nebenbei beibringt, wie man auf Handzeichen Männchen macht. Und die Meute ist groß, die sich hier am Wochenende einfindet. Erst dann ist Wilhelm wirklich in seinem Element, ist Wahrzeichen und Werbesäule in einem, dirigiert die eine Gruppe aufs Plüschsofa, setzt das Pärchen um in die andere Ecke, schleppt neue Stühle heran, bis mehr Leute einen Platz haben, als Sitzgelegenheiten da sind. Swensen ist jedes Mal wieder fasziniert vom Trubel und den Gesprächen, die dadurch unter Wildfremden entstehen.
Heute sind sie jedoch zu früh dran. Es sind noch zehn Minuten vor zwei Uhr. Einige ungeduldige Gäste warten bereits vor der Tür des alten Reetdachhauses, das geduckt dicht hinter dem Deich liegt. Swensen und Anna stellen sich etwas abseits von den Wartenden.
»Sag’ mal, hast du Hajo Peters jemals für einen Selbstmordkandidaten gehalten?«, unterbricht Swensen nach längerem Schweigen die Stille.
»Wie kommst du denn jetzt
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