Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
wollen.«
»Der Künstlername Emil Nolde existiert erst seit 1902, bis dahin lebte Nolde unter seinem Geburtsnamen Emil Hansen. Theodor Storm starb aber schon am vierten Juli 1888. Er konnte diesen Namen gar nicht kennen. Verstehen Sie jetzt?«
»Sie meinen der Roman ist falsch?«
»Wenn es kein Druckfehler ist und es so im Original steht, mit Sicherheit. Irgendetwas stimmt nicht, davon bin ich überzeugt. Ich frage mich nämlich, warum Dr. Kargel diesen eindeutigen Fehler nicht bemerkt haben sollte. Sie wissen ja, dass ich ihn nicht besonders mochte. Kargel mag auch in mancher Hinsicht ziemlich kurzsichtig gewesen sein, aber er war immer ein exquisiter Storm-Experte, der so was nicht übersehen hätte. Mit dem Fehler wäre der Roman in seinem Gutachten nie für echt erklärt worden.«
Swensen steht wie angewurzelt da. Seine Hand krallt sich am Handy fest. Er spürt, dass gerade etwas Dramatisches passiert. In seinem Hirn rattern die Gedanken. Das Gutachten von Kargel ist der Schlüssel, denkt er. Der Roman ist gefälscht. Warum hat Kargel ihn als echt bezeichnet? Wer kann solch einen Roman überhaupt gefälscht haben? Edda Herbst wird es bestimmt nicht gewesen sein. Hajo Peters erst recht nicht. Ein unbekannter Dritter? Wer kann das sein?
»Sind Sie noch dran?«, drängt sich die Stimme von Ruppert Wraage in seine Überlegungen.
»Natürlich, Herr Wraage. Vielen Dank für Ihre Information. Ich werde der Sache so schnell wie möglich nachgehen.«
Swensens innere Gelassenheit ist wie weggeblasen. Es gelingt ihm nicht, sich erneut zu sammeln. Erst mal den Dreck wegmachen, denkt er mit Blick auf das verstreute Kaffeepulver und die unzähligen Kaffeebohnen. Aus dem Schrank unter der Spüle nimmt er einen Handfeger und kehrt alles zusammen. Dann rattert die Kaffeemühle erneut.
Zwanzig Minuten später tritt er mit zwei dampfenden Tassen ins Schlafzimmer und stellt sie auf dem Nachtschrank ab. Anna schlägt die Augen auf. Sie zieht den Duft genussvoll in die Nase.
»Hast du gestern die neue Folge des Storm-Romans gelesen?«
»Wann denn, wir waren den ganzen Tag zusammen.«
»Wo ist denn die Zeitung?«
»Die liegt bestimmt noch immer auf der Flurgarderobe.«
»Danke, meine Liebe!«
Swensen legt seine rechte Hand auf den Bauch, macht eine knappe Verbeugung, eilt aus dem Raum, kommt mit der ›Husumer Rundschau‹ zurück und breitet sie auf der Bettdecke vor Anna aus. Die sieht ihn fragend an. Swensen nimmt einen Schluck Kaffee und blättert die Zeitung durch, bis er den Abdruck des Storm-Romans gefunden hat. Er überfliegt hastig den Text. Dann setzt er sich in Pose.
»Pass auf, Anna. Die Hauptfigur …«
»… der Dichter Dintefaß!«, ergänzt Anna.
»Dintefaß?«
»Ja, übersetzt Tintenfass.«
»Keine Ahnung wie der heißt. Ist ja auch egal. Also, dieser Dichter hat sich einen Schreibtisch anfertigen lassen und dann steht hier wörtlich: Er hatte das wahrhaft fürstliche Möbel seinerzeit beim Holzbildhauer Heinrich Sauermann in Auftrag gegeben. Die Eulen aber ließ nur ein zufälliges Geschick auf seinen Schreibtisch kommen. Beim Besuch des Meisters fiel ihm nämlich ein pfiffig junger Lehrling auf, mit Namen Emil Nolde, der konnte das Schnitzmesser führen, dass es sein Gemüt erquickte.«
»Das weiß doch jeder, dass Nolde diese Eulen für Storms Schreibtisch geschnitzt hat. Den Schreibtisch kann sich schließlich jeder im Storm-Museum ansehen.«
»Es geht nicht um die Tatsache, dass Nolde die Eulen geschnitzt hat, sondern dass dieser Name im Roman auftaucht. Nolde ist nämlich sein Künstlername und diesen Namen hat er sich erst nach Storms Tod gegeben.«
»Das ist ja ein Ding!! Und was heißt das?«
»Ein Druckfehler oder der Roman ist eine Fälschung. Wenn das mit Nolde wirklich im Original steht, muss das Gutachten von Kargel schlicht falsch sein.«
»Meinst du, Peters hat ihn deswegen ermordet?«
»Das wäre zumindest ein einleuchtendes Motiv! Die Sache hat nur einen Haken.«
»Und der wäre?«
»Wenn es einen falschen Roman gibt, gibt es auch jemanden der ihn gefälscht hat.«
»Stimmt!«, sagt Anna nachdenklich. »Hajo Peters traue ich so was wirklich nicht zu.«
»Ich auch nicht! Spinnen wir die Sache doch mal durch. Wenn Hajo Peters den Roman tatsächlich von Edda Herbst geraubt haben sollte und wir gehen davon aus, dass auch Edda den Roman nicht gefälscht hat, dann bleiben zwei Fragen offen. Erstens: Wer hat das Manuskript geschrieben? Zweitens: Wie kam es zu Edda
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