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Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Titel: Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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feiner Lichtpunkte, die einem Sternenhimmel gleichen.
    »Was willst du?«, sagte eine Stimme. »Sei ruhig, alles ist so wie es ist. Du bist vollkommen, die Welt ist vollkommen. Du brauchst dich nicht anzustrengen, es gibt nichts zu verbessern.«
    Eine Welle von Freude wogt vom Kopf hinab zu den Zehenspitzen. Der alltägliche Kampf scheint beendet. Die Gedanken schweben vorbei wie fernes Gebabbel, er muss sie nicht festhalten. Er kann unbeweglich dasitzen, mühelos Stunde um Stunde so, geborgen in einem unendlichen Universum.
    Als er die Augen aufschlägt, ist er etwas benommen. Er mag sich nicht bewegen und bleibt einfach sitzen. Erst langsam kehrt er in die Wirklichkeit zurück. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass er über vierzig Minuten dagesessen hat ohne auch nur mit dem Finger zu zucken. Mit einer Kraftanstrengung erhebt er sich aus dem Lotussitz, die Knochen scheinen verkantet zu sein. Er schiebt das Meditationskissen, das er extra für Annas Wohnung angeschafft hat, mit dem Fuß in die Zimmerecke. Beim Gang in die Küche schaut er kurz ins Schlafzimmer. Anna schläft noch. Er schließt vorsichtig die Küchentür, stellt einen Topf mit Wasser auf den Herd, nimmt zwei Eier aus dem Kühlschrank, piekst sie an. Swensen führt jede Bewegung konzentriert und bewusst aus. Beim Anreißen des Streichholzes bricht dieses ab. Er bleibt gelassen, sucht lächelnd ein zweites, stärkeres heraus. Das entflammt auf Anhieb. Er öffnet den Gashahn, zündet den Brenner, stellt den Topf darauf und wartet bis das Wasser Blasen wirft. Dann lässt er die Eier auf einem Esslöffel in den Topf gleiten. Ein wacher Blick auf die Uhr. In der Speisekammer findet er eine Packung Kaffee. Mit leichtem Schütteln rutschen die Bohnen über den Tütenrand in die Kaffeemühle. Ein Druck auf den Knopf und die Maschine heult ratternd auf. Er bleibt gelassen. Der Lärm prallt an ihm ab. Seine Handgriffe kommen ihm mit einem Mal nicht mehr so trivial vor, sondern er sieht sie im Einklang mit dem Sein.
    Das ist er, der heilige Alltag, denkt er, als ihn von hinten eine Hand an der Schulter berührt. Ein Schreck durchzuckt seinen Körper mitten in der Bewegung und fegt seinen gerade erworbenen Gleichmut beiseite. Er schnellt intuitiv herum. Die Kaffeemühle fällt aus seiner Hand, schlägt auf der Arbeitsplatte auf. Der Deckel springt ab. Die Kaffeebohnen zischen wie Geschosse quer durch die Küche. Vor ihm steht Anna, nackt. Er weiß nicht, wo er zuerst hingucken soll. Auf ihre entblößten Formen, die weiße Haut mit dem buschigen Dreieck oder auf das Chaos rings um ihn herum. Die Welt ist vollkommen, denkt er, jäh aus der Mitte katapultiert, nach Luft schnappend.
    »Du hast dein Handy im Schlafzimmer liegengelassen«, sagt Anna mit müden Augen. »Ruppert Wraage möchte dich unbedingt sprechen.« Sie drückt ihm träge das Handy in die Hand, zuckt grinsend mit der Schulter, dreht sich um und verschwindet mit wippendem Hintern durch die Tür. Er hält das Handy einen kurzen Moment wie einen Fremdkörper, bevor er es ans Ohr nimmt.
    »Swensen«, meldet er sich mit etwas abwesender Stimme.
    »Ruppert Wraage. Entschuldigen Sie den Anruf so früh am Sonntagmorgen. Ich hoffe ich störe Sie nicht zu sehr.«
    »Nein, Sie stören überhaupt nicht«, sagt er mit verkniffenem Gesicht. »Was kann ich für Sie tun, Herr Wraage?«
    »Sie gaben mir bei unserem letzten Gespräch ihre Telefonnummer und sagten, wenn mir noch etwas einfällt, könne ich Sie jederzeit anrufen. Haben Sie zufällig die gestrige Ausgabe der ›Husumer Rundschau‹ gelesen?«
    »Nein!«
    »Schade, denn dort war die letzte Folge des entdeckten Storm-Romans abgedruckt.«
    »Ja, und?«
    »Mir ist beim Durchlesen etwas Bemerkenswertes aufgefallen. Es gibt da einen Abschnitt, wo die zentrale Figur des Romans seinen Schreibtisch beschreibt, den er bei einem Handwerker in Auftrag gab.«
    »Ich verstehe nicht worauf Sie hinauswollen, Herr Wraage!«
    »Zu dem Schreibtisch gehören auch vier geschnitzte Eulen, die von dem berühmten Künstler Emil Nolde stammen. Und das kann nicht sein!«
    »Die Eulen sind nicht von Emil Nolde?«
    »Doch, die sind von Nolde!«
    »Was denn nun?«
    »In dem Roman wird wortwörtlich der Name Emil Nolde genannt. Fällt Ihnen da nichts auf?«, fragt Wraage und macht eine demonstrative Pause.
    Swensen wartet darauf, dass Wraage fortfährt. Als das ausbleibt, wird er ungehalten: »Ich eigne mich überhaupt nicht für Rätsel. Sagen Sie einfach, was Sie sagen

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