Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
tatsächlich im Original. Dann hat ihn jemand nach dem Mord verbessert!
Swensen wird es heiß. Er steuert seinen Wagen wie in Trance auf den Hinterhof der Inspektion. Nachdem er den Motor abgestellt hat, bleibt er in Gedanken versunken im Auto sitzen.
Das könnte das entscheidende Motiv sein! Swensen spürt, wie er sich der Wahrheit annähert. Es ist, als wenn sich der Bodennebel endlich über der richtigen Fährte auflöst. Kargel entdeckt den Fehler und hat den unumstößlichen Beweis für eine Fälschung. Nach dem, was ich über seinen Charakter weiß, muss das ein Triumph für ihn gewesen sein. Er will das Ergebnis mit jemandem aus seinem nahen Umfeld teilen? Und das war sein Fehler. Er informiert aus Versehen entweder den Fälscher höchstpersönlich oder jemanden, der mit dem unter einer Decke steckt. Das ist sein Todesurteil!
Ein hartes Klopfen gegen die Seitenscheibe reißt Swensen aus seinen Überlegungen.
»Jan, bist du eingefroren?«, hört er die dunkle Stimme von Silvia Haman.
Verlegen grinsend steigt er aus dem Wagen, drückt ihr die Hand und betritt mit ihr durch den Hintereingang die Inspektion.
»Wie war das Wochenende?«, fragt sie, als sie über den leeren Flur marschieren.
»Wunderschön!«, antwortet Swensen. »Ich war am Samstag im Katinger Watt spazieren, mit meiner Bekannten. Herrliches Wetter, einfach phantastisch. Und du?«
»Ich hab die meiste Zeit geschlafen. Die letzten Wochen haben ganz schön Kraft gekostet.«
Silvia Haman macht ein gequältes Gesicht. Ihre maskuline Erscheinung hat plötzlich etwas Zerbrechliches. Swensen glaubt eine gewisse Einsamkeit dahinter zu spüren, traut sich aber nicht das anzusprechen. Es gibt das unausgesprochene Gesetz untereinander, die Privatsphäre nicht anzukratzen. Ich frage nicht und du lässt es auch sein. Irgendwie fatal. In unserem Job sind wir nicht so zurückhaltend. Wenn es darum geht, in das Privatleben eines Verdächtigen einzudringen, kennen wir kein Tabu. Da verlieren wir ohne Skrupel den letzten Funken Anstand. Wie oft bin ich mit meinen Fragen weit über das Ziel hinausgeschossen. Ein heimlicher Machtwille? Ja, mit Sicherheit! Wer ist schon frei davon. Und wenn ich einer Person meinen Polizeiausweis unter die Nase halte, steckt da bestimmt ein Quäntchen Genuss dahinter.
Mit einem »Bis gleich« trennen sie sich. Swensen betritt sein Büro, schließt die Tür und sinkt auf seinen Stuhl. Er hat sich bereits daran gewöhnt, dass, wenn etwas Widersprüchliches in ihm rumort, die Gestalt seines Meisters auftaucht, das milde Gesicht, die offenen Augen, in die jeder ohne Mühe bis in die Tiefen des Seins blicken konnte. Er hat sich oft gefragt, ob er ihn in so einem Moment wirklich sieht oder ob seine Erinnerung ihm nur ein Bild aus vergangener Zeit vorgaukelt. Zumindest sind die Worte, die er im Moment hört, damals wirklich so gefallen und folglich nur eine reproduzierte Realität aus der Vergangenheit. Bloß warum kommen sie ihm genau in dieser Situation in seinen Kopf? Gibt es doch eine Verbindung im Jetzt?
Egal, denkt er, zumindest gibt es eine Möglichkeit für mich auf Fragen Antworten zu bekommen. Er sieht den Meister vor sich, der seinen Arm zu einer Geste der Lehrverkündung hebt.
»Macht und Schwäche sind für den Kampf und Fortschritt deiner Seele geschaffen; nur die Ergebnisse gehören nicht dir, sie gehören dem Buddha, der sich jenseits von Macht und Schwäche erfüllt.«
Er nimmt die Worte wahr, versteht ihren Inhalt aber nicht. Sie fühlen sich wie eine Mahnung an, die ihn vor unüberlegten Schritten warnen will. Swensens Körper steht unter einer eigentümlichen Spannung. Es ist die Konzentration am Beginn der Jagd, als wittere er eine Beute, die in steter Bewegung flüchtet. Seine Gedanken jagen ihr hinterher, umkreisen sie heimlich. Aber er findet keinen Ort sie zu belauern. Die Beute ist immer auf dem Sprung, das ist ihre Bestimmung und ihre Schwäche. Sie weiß, dass sie gejagt wird, auch wenn sie den Jäger nicht sieht. Sie versucht dem Sein zu entkommen, läuft ihrem Karma aber instinktiv entgegen, bis sie endgültig ergriffen wird, sich verhaften lässt.
Ich suche einen Fälscher. Der klare Satz verdrängt seinen inneren Wirrwarr, erobert sich einen Platz in seinen Gedanken. Swensen ist wieder der normale Kriminalpolizist.
Sollte es ihn wirklich geben, denkt er, dann ist er der Mörder! Oder hat Hajo Peters alle Morde begangen und arbeitete mit dem Fälscher nur zusammen? Aber warum wurde dann Edda Herbst
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