Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
blind, mit roten Kreisen vor Augen tappt er ins Innere. Als die Sehkraft zurückkehrt, steht er in einem schmalen Durchgangsraum, einer Art Schleuse, vor ihm eine Gittertür, im Rücken die wieder geschlossene Stahltür. Rechts, hinter einer großen Trennscheibe, mustert ihn ein Vollzugsbeamter von oben herab. Swensen drückt seinen Ausweis in Augenhöhe ans Glas.
»Sie werden sofort abgeholt! Warten Sie bitte einen Augenblick!«, quäkt es daraufhin aus einem Lautsprecher.
Zehn Minuten später, nach einem strammen Fußmarsch über die Flure im Windschatten einer grauen Uniform, öffnet diese die Tür zu einem Büro.
»Herr Swensen von der Kripo aus Husum«, nuschelt die Uniform in Richtung Sekretärin, die mit einem Griff ans Ohr und Achselzucken andeutet, dass sie nichts verstanden hat.
»Jan Swensen«, springt Swensen seinem grauen Begleiter zur Seite. »Kripo Husum. Direktor Eisenhauer erwartet mich.«
Die magere, junge Frau mit spindeldürren Armen und platinblonder Kurzhaarfrisur öffnet die Tür neben ihrem Schreibtisch. Aus ihrem grellrot geschminkten Mund kommt mit piepsiger Stimme ein »Herr Swensen ist da.«
»Soll reinkommen«, ruft es zurück.
Mit einer Handbewegung winkt sie Swensen zu sich und tritt im letzten Moment zu Seite.
»Nehmen Sie Platz, Herr Swensen! Wie geht es Ihnen?«
Ein betagter, bestimmt knapp vor der Pensionierung stehender Mann mit mittelgroßer Statur sitzt wie angeklebt in seinem Drehstuhl. Sein Körper macht einen schwammigen Eindruck. Er trägt keine Uniform, sein ziviles Outfit gleicht trotzdem der Uniformierung seiner Vollzugsbeamten, grauer Glenscheck-Anzug, grauer Rollkragenpullover, graue Lloyd-Socken und -schuhe.
»Gut!« erwidert Swensen kurz und bündig. »Und selbst?«
»Ach, nach dem zweiten Herzinfarkt geht’s mir wieder hervorragend!«
Swensen verspürt ein leichtes Unbehagen, weiß nicht, was er darauf antworten soll. Doch Bertold Eisenhauer plaudert völlig sorglos weiter.
»Nachdem die reichlich Rohre verlegt haben, fließt das alles wieder so gut wie früher. Aber wegen meiner Krankengeschichten sind Sie ja nicht hier, Herr Swensen. Ich hab mir gestern gleich die Akte von Ludwig Rohde kommen lassen und sie ein wenig durchgestöbert. Das war schon ein verdammt harter Hund, wie wir hier zu sagen pflegen. Der hatte eine ausgesprochen starke kriminelle Energie.«
Bertold Eisenhauer reicht ihm eine Karteikarte. Darauf befinden sich die drei üblichen Fotos, Seitenansicht links, Gesicht von vorn und Seitenansicht rechts, die bei jeder erkennungsdienstlichen Behandlung erstellt werden.
Swensen guckt enttäuscht auf die kleinen Fotos, die ein vollbärtiges, mit scharfen Linien gezeichnetes Gesicht mit mächtiger Nase und glatten, schulterlangen Haaren zeigen.
Das typische 68er-Face, denkt Swensen, so sahen wir in der Zeit doch fast alle aus.
»Ist das Ihr Mann?«, fragt Eisenhauer.
»Weiß nicht!«, sagt Swensen schulterzuckend. »Die Bilder sind nicht gerade jüngeren Datums, oder?«
»’74 wurde er geschnappt. Bald dreißig Jahre her.«
»Kann ich mir das ausleihen? Vielleicht können wir sie im Computer auf den neuesten Stand bringen lassen.«
»Wenn wir sie unversehrt zurückbekommen, bitte.«
»Was können Sie mir über Rohde sagen?«
»Nicht viel. Bei seiner Verhaftung hatte es einigen Wirbel gegeben, daran kann ich mich noch erinnern. Die Zeitungen waren voll mit Berichten über den Fall. Dann wurde es schnell ruhiger. Rohde fiel nicht mehr besonders auf. Einige Jahre später rückte noch irgendein Journalist an und führte ein Interview mit ihm. Das war’s dann aber auch, bis auf eine Kleinigkeit. Seine Strafe musste er, trotz guter Führung, bis zum letzten Tag absitzen. Die Polizei nahm nämlich an, dass er mit dem Falschgeld eine beträchtliche Summe echtes Wechselgeld zusammenbekommen hatte, was jedoch nie bei ihm gefunden wurde. Rohde sagte dazu kein Wort. Nach der Entlassung beschattete die Polizei ihn mehrere Monate. Dann war er eines Tages von der Bildfläche verschwunden und ist nie mehr aufgetaucht.«
»Moment mal«, unterbricht Swensen, »wollen Sie damit sagen, niemand weiß wo er sich heute aufhält?«
»Genau! Der Kerl ist wie vom Erdboden verschluckt. Wenn Sie mich fragen, hat der die Polizei am Nasenring vorgeführt. Die Kohle war sicherlich versteckt. Der hat sich bestimmt ins Ausland abgesetzt.«
»Wenn das wahr wäre, kann er nicht unser Mann sein. Aber davon bin ich noch nicht 100% überzeugt.«
»Sie meinen, die
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