Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
und beginnt, wie immer in so einer Lage, sofort mit einer Atemübung. Er lässt die Luft konzentriert ein und aus fließen. Das Klingeln seines Handys beendet die Entspannung, bevor sie noch richtig begonnen hat. Da sich auf der Straße sowieso nichts bewegt, drückt er auf Empfang.
»Swensen!«
»Sind Sie es, Herr Swensen? Ich kann Sie schlecht verstehen!« Susan Biehls Klostergesang klingt wie ein Anruf aus dem Vatikan.
»Ja ich bin’s! Ich versteh’ Sie gut! Können Sie mich hören?«
Swensen dreht sich um hundertachtzig Grad und schmunzelt über die immer absurdere Kommunikation.
»Gerade so. Aber es geht! Wo sind Sie denn bloß?«
»Ich bin in Hamburg. Hollmann hat mich gestern Abend noch angerufen. Er war sich ziemlich sicher, dass dieser Fotograf, der uns die Bilder der Leiche geschickt hat, aus Hamburg kommt. Da hab ich mich heute Morgen gleich auf die Socken gemacht, zumal meine alte Abteilung hier mir Hilfe zugesagt hat. Und was ist bei euch los?«
»Wichtige Neuigkeiten! Frau Haman hat den alten Freund der Herbst ausfindig gemacht und ist zur Vernehmung hin. Und Herr Mielke ist im Hafen. Ein Krabbenkutter hat eine Leiche rausgezogen.«
»Eine Frauenleiche?«
»Ja.«
»Mensch Susan, nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Ist es Edda Herbst?«
»Weiß man noch nicht. Herr Mielke ist gerade erst los. Der Chef hat Staatsanwalt Dr. Rebinger benachrichtigt und will um halb sechs eine Pressekonferenz abhalten. Er wünscht, dass Sie dabei sind.«
»I do my very best! Ich beeil’ mich! Bis dann!«
»Bis dann!«
Die Autos stehen weiterhin wie festgeschraubt. Swensen lehnt sich zurück, entspannt sich und besinnt sich auf seine Atemübung.
»Ich atme ein und fühle mich ruhig. Ich atme aus und fühle mich friedlich, und ruhig – friedlich, ruhig – friedlich.«
Polizeidirektion West. Eineinhalb Stunden für fünf Kilometer, eine reife Leistung, denkt Swensen, als er mit gemischten Gefühlen die Eingangstreppe zur Mordkommission hinaufsteigt. Bis auf einen Satz neuester Computer scheint hier die Zeit stehen geblieben zu sein.
Heinrich Karlsen steuert mit dem bekannten federnden Gang direkt auf ihn zu und drückt ihm gelangweilt die Hand.
»Swensen, lange nicht gesehen! Wie geht’s?«
Sein alter Chef scheint, bis auf ein paar Falten, null gealtert. Sein durchtrainierter Körper und sein kantiges Gesicht mit der leicht geknickten Nase gaben ihm schon immer das Aussehen eines Preisboxers.
»Sehr gut, Heinrich. Was macht Hauptkommissar Begier?«
»Der Karl, der ist seit zwei Jahren in Rente, mein Lieber!«
»Oh, war er denn schon so alt?«
Karlsen ignoriert die Frage, packt Swensen unsanft am Arm und zieht ihn in Richtung eines Schreibtischs in der äußersten Ecke des Bürogroßraums.
»Ich stell’ dir Murat Hassanzadeh zur Seite. Übrigens, du weißt, dass dein Wunsch nach eigener Ermittlung von uns nicht gern gesehen wird. Warum schickt ihr uns nicht die Akte zu, wir erledigen den Job und schicken euch die Akte zurück?«
»Genau aus dem Grund, wegen der Schickerei! Wir haben heute eine Leiche aus der Nordsee gezogen und heute Abend ist Pressekonferenz. Wäre gut, wenn ich dann ein paar Neuigkeiten hätte.«
»Ich dachte, nur wir in Hamburg kennen Stress!« witzelt Karlsen und tritt an den Schreibtisch eines mittelgroßen Mannes im adretten Anzug mit knallbunter Seidenkrawatte. Er hat dunkelbraune Augen, kurze schwarze Haare und einen penibel gepflegten Schnurrbart. Mitte dreißig schätzt Swensen und tippt auf einen gebürtigen Iraner, Iraker oder Ägypter.
»Das ist Murat Hassanzadeh. Murats Eltern sind damals während des Schahregimes nach Deutschland immigriert. Und das ist Jan Swensen aus Husum. Du weißt schon Murat, die Sache mit dem Fotografen.«
Karlsen klopft mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte und verschwindet. Die beiden Männer geben sich die Hand.
»Ich hab schon nachgeforscht. Sylvester von Wiggenheim wohnt in der vornehmsten Gegend von Blankenese, an der Elbchaussee.«
Swensen ist amüsiert über das perfekte Deutsch mit deutlichem Hamburger Akzent. Murat Hassanzadeh registriert das, fährt jedoch unbeirrt mit seinen Ausführungen fort.
»Eigentlich gehört Blankenese nicht zu unserem Ermittlungsgebiet, aber ich habe schon mit dem Chef dort gesprochen. Sie drücken beide Augen zu.«
Die weiße Villa der Wiggenheims gleicht mit ihrem Säulenvorbau einer etwas gewollten Nachbildung des Weißen Hauses in Washington. Im Schatten dieses
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