Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
Luft und zischt, als wenn ihm ein Korken aus dem Hals schießt.
»Bitte nicht jetzt! Wir haben im Moment wahrlich andere Sorgen!«, brüllt Püchel. »Ich klemm mich hinters Telefon und ruf unsere Truppe zusammen. Ihr fahrt gleich mit dem nächsten Streifenwagen rüber zum Tatort!«
Swensen merkt, dass er noch immer die Fotos in der Hand hält. Er bittet Silvia, die sich gerade dem davoneilenden Rudolf an die Fersen heften will, dass sie unten auf ihn warten sollen und eilt rüber zum Konferenzraum. Er entfernt blitzschnell die dort hängenden Fotos um sie durch die neuen Vergrößerungen zu ersetzen. Dann sprintet er zur Eingangstür der Inspektion und springt die Treppe hinunter. Auf der Straße steht ein Streifenwagen mit offener Tür. Swensen klemmt sich dicht neben Silvia, die mit Rudolf auf der Rückbank sitzt. Mit Blaulicht geht es in Richtung Hafen, dort in kurzen Sätzen über das Kopfsteinpflaster, dann rechts in die Fußgängerzone, abbremsen auf Schritttempo, und links in die Wasserreihe. Eine kleine, kugelrunde Frau in einem geblümten Kittel steht wild fuchtelnd vor dem Gartentor des Stormmuseums.
* * *
Eine halbe Stunde später herrscht in dem historischen Haus in der Wasserreihe 31 so viel Betrieb, wie nicht mal zu den besten Besuchszeiten. Fast die gesamte Kripomannschaft der Inspektion ist vor Ort. Die enge Gasse ist in der gesamten Länge von der Streifenpolizei abgesperrt. Swensen ist nach der ersten Hektik gerade einen Moment zur Ruhe gekommen. Er steht im Eingangsbereich vor dem Kassentresen und studiert die Postkarten, Hefte und Bücher, die hier zum Verkauf ausliegen. Peter Hollmann und sein Spurenteam haben sich das Tatzimmer im ersten Stock vorgenommen. Durch die offene Tür dringt zuckendes Blitzlicht bis nach unten. Swensen greift nach einem weißen Büchlein mit dem Konterfei von Theodor Storm. Über dem Titel ›Die großen Novellen‹ liest er den Namen des Autors: Herbert Kargel. Da ist es wieder, das eigenartige Gefühl.
Ist doch merkwürdig, denkt Swensen. Dauernd Namen, die auch im Fall Edda Herbst rumschwirren. Vor einer Woche hab ich den Kargel noch aus dem Club 69 schleichen sehn und jetzt liegt er mausetot da oben.
Mit einem feinen Quietschen öffnet sich die Eingangstür. Dr. Michael Lade, der meistens bei Todesfällen von der Husumer Kripo zum Tatort gerufen wird, tritt mit einem Schutzpolizisten im Schlepptau ein. Der korpulente Mediziner hebt im Vorbeigehen den Arm zum Gruß.
»Hallo Michael!«, grüßt Swensen zurück, der mit Lade schon längere Zeit per Du ist.
»Der Tote liegt oben im ersten Stock. Erschossen.«
Lade nickt und steigt schwerfällig die Treppe nach oben.
»Ich würde gerne danach noch mit dir sprechen, bevor du gehst!« ruft Swensen ihm hinterher. »Und Vorsicht, pass’ auf deinen Kopf auf! Die Tür ist extrem niedrig!«
»Alles klar!«, ruft Lade von oben zurück. Im schummerigen Licht sieht er aus wie ein pralles Gespenst, das hinter dem Holzgeländer entlang schwebt. Vor dem Tatzimmer steht ein Schutzpolizist. Lade stößt trotz seiner Warnung beim Eintreten beinah gegen den oberen Türbalken. Erst im letzten Moment gelingt es ihm, seinen Kopf einzuziehen. Swensen wendet sich mit einer auffordernden Kopfbewegung dem Schutzpolizisten zu, der neben ihm ausgeharrt hat.
»Vor der Absperrung stehen einige Mitarbeiter aus dem Büro hier. Sollen wir sie schon durchlassen?«
»Wie viele sind es?«
»Zwei Sekretärinnen und Dr. Karsten Bonsteed. Er gibt sich als Stellvertreter des Toten aus.«
»Jan! Kannst du bitte sofort kommen? Das musst du dir unbedingt ansehen!«
»Moment bitte, Silvia!«, stoppt Swensen rigoros ihre Unterbrechung und wendet sich wieder dem Schutzpolizisten zu.
»Solange die Spurensicherung nicht abgeschlossen ist, können wir hier im Haus niemand brauchen. Hinten im Garten steht ein Gebäude, ich glaub’ das ehemalige Waschhaus. Bring alle Mitarbeiter erst mal dort hin. Kollege Mielke ist dort schon mit der Putzfrau. Er möchte bitte alle verhören. So, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte!«
Swensen wendet sich Silvia zu, deren Stirnfalten darauf schließen lassen, dass sie mächtig unter Druck steht.
»Nun, was gibt’s so Dringendes!«
»Entschuldigung!« Sagt er dann sofort. »Ich hab mich da wohl etwas in der Formulierung vergriffen!«
»Na ja! Zumindest bist du jemand, der das noch merkt!«
»Also, was ist los?«
»Gleich im Vortragsraum, da hinten links, in dem die ganzen Stühle rumstehen, ist
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