Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
noch mal ins Büro.«
»Jan, es ist schon nach neun Uhr!«
»Ich weiß, ich weiß. Aber mir ist da was in den Sinn gekommen. Ich muss das unbedingt überprüfen.«
»In den Sinn gekommen!?«
»Ja, auf einem der Fotos mit dieser Leiche im Watt hab ich etwas entdeckt.«
»Was denn?«
»Das weiß ich eben nicht. Irgendetwas. Ich hab so eine Ahnung was gesehen zu haben, aber nicht bewusst, verstehst du?«
»Die Psychologie setzt sich hauptsächlich mit dem Unbewussten auseinander.«
»Gut, ich wusste, dass du mich verstehst.«
* * *
Es ist kurz vor Mitternacht, als Swensen auf der Deichkrone entlangmarschiert. Ein starkes Unwetter fegt ihm ins Gesicht. Zur Linken zieht sich seit über einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh geleerte Marsch entlang, zur Rechten kann man normaler Weise das Wattenmeer der Nordsee sehen. Es ist Sturmflut. Swensen kann gerade noch die gelbgrauen Wellen erkennen, die unaufhörlich wie mit Wutgebrüll den Deich hinaufschlagen. Dahinter wüste Dunkelheit, die Himmel und Erde nicht unterscheiden lässt. Selbst der Vollmond, der heute in der Höhe steht, ist meist von treibenden Wolken überzogen. Es ist schneidend kalt. Swensen zieht sich den Kragen des Mantels über die Ohren. Plötzlich merkt er, wie sich in seinem Nacken eine Gänsehaut bildet. Irgendetwas kommt ihm auf dem Deich entgegen. Er kann es nur spüren, sieht aber nichts. Immer dann, wenn das Licht des Mondes für Sekunden durch die Wolken fällt, glaubt er in der Ferne einen dunklen Punkt zu erkennen, der sich unwirklich langsam auf ihn zu bewegt. Der Sturm reißt das Kreischen einer einsamen Möwe an ihm vorbei. Unheimlich, denkt Swensen. Eine Möwe mitten in der Nacht. Eine Warnung? Die Erscheinung taucht wieder im Mondlicht auf. Bald sind die Umrisse auszumachen. Es ist ein Auto. Und schon ist es ganz nah. Swensen wird steif vor Angst. Es ist ein Ungetüm von einem Auto, ein weißer Geländewagen. Seine matte Lackierung schimmert wie bleiche Knochen. In den verchromten Spoilern spiegelt sich Swensens erstarrte Gestalt. Der Wagen rollt, nein gleitet im Schritt-Tempo an ihm vorbei. Durch die verschmierten Scheiben sehen ihn zwei Augen an, rot wie brennende Kohlen. Das Leinendach flattert im Wind. Dann ist der Spuk vorbei. Der Sturm legt sich, die Wolken reißen auf. Der Vollmond überzieht die Landschaft mit hellem, nebligem Schein, weiß wie ein Leichentuch. Aus dem Kirchturm im nächsten Dorf schlägt die Glocke einmal.
Erschreckt fällt ihm auf, dass er keinen Laut gehört hatte, kein Motorgeräusch, nichts, obwohl der Wagen ihn beinahe haarscharf streifte.
Hajo Peters, kommt es Swensen in den Sinn und er sieht wieder die glühenden Augen vor sich. Der Fahrer war Hajo Peters!
Im Gras der Deichkrone haben sich tiefe Reifenspuren abgezeichnet. Swensen dreht um und folgt ihnen. Da sieht er etwas direkt vor sich liegen, ein kleines, glitzerndes Ding. Er beugt sich herab, seine Finger wollen es gerade greifen, doch im selben Moment ist es verschwunden. Es ist, als ob es sich in Luft aufgelöst hat. Plötzlich bricht das Unwetter wieder mit voller Macht los. Swensen kniet nieder, wühlt verzweifelt im nassen Gras. Die Zeit verlangsamt sich. Er sieht, wie Regentropfen prall und rund durch die Luft nach unten fallen, seine Hände treffen, sich beim Aufprall in eine Wasserkrone umformen und ins Nichts zerstäuben.
Swensens Lider klappen auf. Er ist sofort hellwach. Regen knallt wie Maschinengewehrfeuer gegen die Fensterscheibe. Er hat das Fenster offen gelassen. Ein eiskalter Wind weht herein. Mit einem Ruck schlägt Swensen die Bettdecke zur Seite, sprintet zum Fenster und schließt es. Sein Blick fällt in die Nacht. Ein leuchtender Kreis ist gerade hinter schwarzen Wolken aufgetaucht. Sein weißes Licht verwandelt die Regenstreifen an der Scheibe in eine funkelnde Perlenkette. Swensen sprintet zurück, krabbelt wieder unter die Decke und knipst die Lampe auf dem Nachttisch an. Die Uhr zeigt 4.17 Uhr.
Scheiße, denkt er, ich hab nur eine lausige Stunde geschlafen.
Oben auf dem Bücherstapel neben der Uhr liegt der Schimmelreiter von Theodor Storm. Nach über dreißig Jahren hat er ihn gestern Abend, als er ins Bett ging, in einem Rutsch erneut gelesen. Am Anfang hatte ihn der alte Sprachstil zwar etwas genervt, dann packte ihn die knappe und präzise Erzählweise Storms aber immer mehr. Am Ende war es schon nach 3.00 Uhr, als er das Buch zuklappte.
Anna Diete hatte es ihm gestern Abend, sichtlich
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