Hafen der Träume: Roman (German Edition)
kleiner Junge warst. Gloria besuchte sie mit dir in New York, und du hast eine Weile bei ihr gewohnt. Damals warst du ungefähr vier Jahre alt.«
»Ich kann mich nicht erinnern.« Sein Gesicht war trotzig verschlossen. »Wir sind ständig umgezogen.«
»Seth, ich weiß, es ist sehr schwer für dich.« Grace drückte ihm zuversichtlich die kleinen Fäuste. »Aber vielleicht kann deine Tante helfen. Wir alle begleiten dich morgen und stehen zu dir.«
Cam sah die Abwehr ins Seths Augen und beugte sich zu ihm. »Die Quinns kneifen nicht.« Er wartete, bis Seth ihm ins Gesicht sah. »Sie stellen sich einem Kampf und gewinnen.«
Seths Stolz und seine Angst, dem Namen nicht gerecht zu werden, den sie ihm gegeben hatten, brachten ihn schließlich dazu, die Schultern zu straffen. »Okay. Ich komme mit. Aber ich lass mich auf nichts ein, was sie sagt.« Sein wütender, trotziger Kinderblick flog zu Phillip. »Hast du mit ihr geschlafen?«
»Seth!« Annas Stimme klang spitz und hart wie ein Schlag. Doch Phillip hob beschwichtigend die Hand.
Sein erster Impuls war, dem Jungen zu sagen, das gehe ihn nichts an. Aber er hatte gelernt, schneidende Antworten hinunterzuschlucken und mit Überlegung zu reagieren. »Nein, habe ich nicht.«
Seth zuckte die Achseln. »Vergiss es.«
»Du bist mir wichtiger.« Phillip sah Überraschung in Seths Augen aufflackern. »Ich habe ein Versprechen gegeben, dass du an erster Stelle stehst. Daran ändert nichts und niemand etwas.«
Zusammen mit der Wärme, die ihm ins Herz floss, spürte Seth ein kleines Nagen. »Tut mir Leid«, murmelte er und starrte beschämt auf seine Hände.
»Geht klar.« Phillip nippte an seinem lauwarm gewordenen Kaffee. »Morgen hören wir uns an, was sie zu sagen hat, und dann hört sie sich an, was wir zu sagen haben. Was du zu sagen hast. Dann sehen wir weiter.«
Sybill hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Ihr war flau im Magen, ihr Kopf durch die Nachwirkungen von Migräne und Tabletten benebelt, ihre Nerven zum Zerreißen gespannt aus Angst vor der Gegenüberstellung mit den Quinns. Und vor Seth.
Die Quinns mussten sie hassen. Doch sie bezweifelte, dass die Quinns sie mehr verachteten als sie sich selbst. Wenn das, was sie von Phillip erfahren hatte, stimmte – die Drogen, die Prügel, die Männer –, hatte sie sich des Verbrechens unterlassener Hilfeleistung schuldig gemacht. Sie hatte ihren kleinen Neffen der Hölle überlassen.
Niemand konnte ihr schlimmere Vorwürfe machen, als sie es in dieser endlos langen, schlaflosen Nacht getan hatte. Und trotzdem war sie krank vor Angst, als sie auf den kleinen Parkplatz neben dem Sozialamt einbog.
Es wird zu hässlichen Szenen kommen, dachte sie, drehte sich den Rückspiegel zurecht und schminkte sich sorgfältig die Lippen. Harte Worte, kalte Blicke – und sie reagierte so erbärmlich hilflos und dünnhäutig auf Feindseligkeit.
Ich schaffe es, Haltung zu bewahren, befahl sie sich. Sie würde nach aussen ruhig und gelassen wirken, egal, wie aufgewühlt ihr Inneres war. Diese Strategie hatte sie sich im Laufe ihres Lebens zugelegt. Zurückhaltung und Distanz bewahren und überleben war ihre Devise.
Sie würde es überleben. Und wenn sie es schaffte, Seths verwundete Seele irgendwie zu beruhigen, ihm die Angst zu nehmen, dann würde sie gern alle Verletzungen ertragen, die man ihr zufügte.
Aus dem Wagen stieg eine kühle, selbstbewusste Frau im schlichten dunklen Seidenkostüm, das glänzende Haar in einem glatten Schwung nach hinten gekämmt. Ihr Make-up war unauffällig und perfekt.
Doch ihr Magen schmerzte wie eine offene, brennende Wunde.
Sie betrat den Vorraum. Im Wartebereich saßen bereits mehrere Menschen. Ein Säugling wimmerte in den Armen einer Frau, deren Augen vor Müdigkeit fieberten. In einiger Entfernung hockte ein Mann in kariertem Flanellhemd und Jeans, mit grimmiger Miene nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die Fäuste zwischen den Knien. In der hintersten Ecke saßen zwei Frauen. Mutter und Tochter, registrierte Sybill. Die jüngere Frau barg den Kopf an der Schulter der älteren und weinte lautlos aus verquollenen Augen, die zweifellos von Männerfäusten bearbeitet worden waren.
Sybill wandte sich ab.
»Dr. Griffin«, erklärte sie der Frau am Schalter. »Ich bin mit Anna Spinelli verabredet.«
»Ja, Sie werden bereits erwartet. Den Flur entlang, zweite Tür links.«
»Danke.« Sybill festigte den Griff um den Schulterriemen ihrer Handtasche
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