Hafen der Träume: Roman (German Edition)
verbreiten.
Selbstverständlich hatte sie zunächst den bequemsten Weg gewählt und zum Telefon gegriffen. Aber am Telefon konnte sie nicht die Reaktion vom Gesicht ihrer Gesprächspartnerin ablesen, und damit entging ihr der halbe Spaß. Also hatte sie sich in ihren neuen, schicken, kürbisroten Hosenanzug aus dem J.-C.-Penney-Katalog geschmissen und war losgezogen.
Schließlich war sie die reichste Frau von St. Christopher, und das sollten die Leute ruhig sehen. Am besten eignete sich Crawford’s Gemischtwarenhandlung, um gesehen zu werden und Klatsch zu verbreiten.
Der zweitbeste Platz war der Frisiersalon am Marktplatz, wo sie sich zum Waschen, Tönen und Legen angemeldet hatte.
Mutter Crawford, eine Institution in St. Christopher,
thronte mit ihren neunundsechzig Jahren in ihrer geflickten Schürze hinter dem Ladentisch und schwieg beharrlich.
Natürlich hatte sie die Neuigkeiten bereits erfahren – Mutter entging so leicht nichts und schon gar nicht auf Dauer. Aber sie hatte sich vorgenommen, Nancy auszuhorchen.
»Denken Sie nur, der Junge ist Ray Quinns Enkel! Und der Neffe dieser hochnäsigen Schriftstellerin, und die ist die Schwester der grässlichen Person, die so abscheuliche Dinge verbreitet hat. Ihr eigen Fleisch und Blut, aber hat sie darüber ein Wort verloren? Nein. Hat sie nicht. Stattdessen stolziert sie wie ein Pfau durch die Gegend. Und mit Phillip Quinn war sie schon segeln. Und wenn Sie mich fragen, haben die noch ganz andere Dinge auf dem Boot getrieben. Diese jungen Leute setzen sich doch heutzutage über Anstand und Moral hinweg, einfach so. Unglaublich.«
Dabei schnippste sie knapp vor Mutters Gesicht mit den Fingern, und ihre Augen funkelten vor boshaftem Vergnügen.
Mutter hatte das Gefühl, Nancy springe gleich auf ein anderes Thema über, und hob ihre massigen Schultern. »Ich finde«, begann sie und wusste, dass sämtliche Kunden im Laden die Ohren spitzten, »dass sich eine Menge Leute in unserer Stadt schämen sollten, all den hässlichen Klatsch über Ray verbreitet zu haben. Als er noch lebte, haben sie hinter seinem Rücken getuschelt, und nach seinem Tod haben sie sogar an seinem Grab behauptet, er habe Stella – möge sie in Frieden ruhen – betrogen und ein Verhältnis mit dieser DeLauter gehabt. Und was stellt sich raus? Alles aus der Luft gegriffen. Nichts als üble Nachrede. Pfui Teufel!«
Ihr wachsamer Blick wanderte durch den Laden, und tatsächlich senkten ein paar Kundinnen die Köpfe oder studierten mit besonderer Aufmerksamkeit das Warenangebot
in den Regalen. Zufrieden blickte sie wieder in Nancys funkelnde Augen. »Und Sie gehören auch zu denen, die schlecht von einem rechtschaffenen Mann wie Ray Quinn dachten.«
Nancy warf sich entrüstet in die Brust. »Ich? Ich habe nie ein Wort von dem Geschwätz geglaubt, Mutter.« Darüber zu reden ist etwas ganz anderes als es zu glauben, dachte sie. »Aber selbst ein Blinder konnte sehen, dass der Junge Rays Augen hat und ein Blutsverwandter von ihm ist. Erst neulich habe ich zu Silas gesagt, ›Silas‹, hab’ ich gesagt, ›ich frage mich, ob der Junge ein Cousin oder so was von Ray Quinn ist.‹«
Sie hatte zwar nichts dergleichen gesagt, aber sie hätte es gesagt haben können, wenn sie es sich recht überlegte.
»Aber darauf, dass er Rays Enkel ist, wäre ich natürlich nicht gekommen. Wo doch kein Mensch wusste, dass Ray eine Tochter hat.«
Was natürlich der Beweis dafür war, dass er nicht so unschuldig war, wie er tat, oder? Sie hatte immer den Verdacht gehabt, Ray Quinn habe es in seiner Jugend ziemlich wild getrieben. Vermutlich war er sogar ein Hippie. Und schließlich wusste jeder, wie zügellos die sich aufgeführt hatten.
Die rauchten Marihuana, veranstalteten wüste Sexorgien und liefen nackt durch die Gegend.
Aber sie würde sich hüten, in Mutter Crawford’s Laden auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Damit wollte sie warten, bis ihr im Frisiersalon die Haare schamponiert wurden.
»Und die scheint es ja noch wilder getrieben zu haben als die Jungs, die er und Stella zu sich genommen haben«, plapperte sie weiter. »Und diese Schriftstellerin im Hotel wird kaum anders …«
Sie unterbrach mitten im Satz, als die Glocken an der Ladentür bimmelten. In der Hoffnung auf neues, interessiertes
Publikum drehte sie sich um und sah Phillip Quinn in den Laden kommen. Noch besser, nun betrat auch noch einer der Hauptakteure die Bühne. Es wurde immer interessanter.
Noch ehe er richtig im
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