Hafenmord - ein Rügen-Krimi
sondern einen Audi. Wenn sie es recht bedachte, bestand die Hauptähnlichkeit darin, dass beide den gleichen Beruf ausübten. Aber der Kommissar aus Bergen war echt, aus Fleisch und Blut, und er stand vor ihrer Tür und wollte eine Auskunft – von ihr.
Erna drehte den Rollstuhl zur Seite und bat Kommissar Schneider herein, nachdem sie einen langen prüfenden Blick auf seinen Ausweis geworfen hatte.
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte sie auf dem Weg in die Küche. »Ich mache mir nämlich gerade meinen zweiten Morgentee: Hagebutte oder Jasmin. Sie haben die freie Wahl. Sie sind beide sehr gut.«
Der Kommissar lächelte höflich und lehnte dankend ab. Wahrscheinlich trank er lieber Kaffee, aber der war ungesund. Er griff in die Seitentasche seiner Jacke und holte zwei Fotos heraus. Der abgebildete Mann sagte ihr nichts, aber der Wagen …
»Sie sind viel zu Hause, Frau Thile«, bemerkte der Kommissar. »Unter Umständen bekommen Sie einiges von dem mit, was hier in der Straße so vor sich geht.«
Erna machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ja, möglich.Ich sitze häufig auf der Terrasse, auch wenn es kalt ist. Geht es um das schreckliche Verbrechen an unserem Nachbarn, Kai Richardt? Sind Sie deswegen hier?«
»In diesem Zusammenhang ermitteln wir, ja«, antwortete der Kommissar zurückhaltend. Er wies auf das Foto mit dem Auto. »Ist Ihnen ein solches Fahrzeug in letzter Zeit mal aufgefallen?«
Sie blickte erneut auf das Foto. »Ein roter Fiat 500 – ja«, sagte Erna Thile prompt. »So ein Auto stand letztens eine ganze Weile hier rum. Ich kenne mich ganz gut aus mit den verschiedenen Automarken. Mein Sohn ist Kfz-Mechaniker und hat eine eigene Werkstatt.« Sie nickte eifrig. »Ich habe ihn gesehen, als ich draußen in der Sonne saß – also, ich meine den Fiat. Ich dachte erst, der hätte sich verfahren. Aber dann hörte ich, dass er den Motor abgestellt hatte, und nahm an, dass der Fahrer telefonieren wollte. Man darf ja während der Fahrt nicht telefonieren.«
Kommissar Schneider lächelte. »Sie sind gut informiert.«
»Ich bin sechsundachtzig, aber ich bekomme noch alles mit, und blöd bin ich auch nicht.«
»Um Gottes willen – so meinte ich das natürlich nicht!«
Er sah sie so erschrocken an, dass Erna augenblicklich Mitleid bekam.
»Schon gut. Ich meine ja nur. Manche Leute denken, dass man ab dem achtzigsten Lebensjahr nicht mehr ganz rund tickt. Also, so ein Fiat war hier letztens unterwegs«, erklärte sie noch einmal mit Nachdruck.
»Können Sie einschätzen, wie lange er hier stand?«
»Vielleicht zehn Minuten. Kurz nachdem der Richardt weggefahren war, fuhr er auch wieder los.«
Der Kommissar notierte sich ihre Anmerkung. »Wissen Sie den Tag noch?«
»Mitte der Woche, glaube ich – so vom Gefühl her. Festlegen könnte ich mich aber nicht. Die Tage verschwimmenhäufig. Meine Freundin führt ja Tagebuch. Sie sagt, das hilft, wenn man verhindern möchte, dass ein Tag den anderen einfach verschluckt …«
»Interessant«, bemerkte der Kommissar und schloss sein Notizheft. Seine Miene erweckte den Anschein, als meinte er das auch so. »Gut, Frau Thile, das genügt mir erst mal.«
Erna Thile goss sich vorsichtig eine Tasse Tee ein, rührte braunen Zucker hinein und wandte Kommissar Schneider dann das Gesicht wieder zu.
»Wenn Sie schon mal hier sind, kann ich Ihnen auch noch etwas anderes erzählen, was mir letztens aufgefallen ist«, erklärte sie nach kurzem Zögern.
»Ja, nur zu. Jede Beobachtung kann von Bedeutung sein.«
»Die Frau Richardt ist aufs Dach geklettert – am letzten Samstagnachmittag. Auf das Dach ihres Hauses. Das macht sie sonst nie.«
Der Kommissar sah sie verblüfft an und räusperte sich. »Vera Richardt ist aufs Dach geklettert? Sind Sie sicher?«
»Ich saß auf der Terrasse und konnte es gut beobachten. Ich dachte erst, sie hätte ihren Schlüssel vergessen und müsste über den Balkon steigen, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Die Kinder waren ja da, und sie hätte klingeln können. Dann überlegte ich, dass sie vielleicht was reparieren wollte – einen Dachziegel oder so. Aber solche Dinge hat sie nie gemacht.«
Der Kommissar sah sie stirnrunzelnd an. Er glaubt mir nicht, dachte Erna. Die Geschichte mit der Nachbarin auf dem Dach hält er meinem fortgeschrittenen Alter zugute oder meiner Phantasie. Vielleicht auch beidem. Sie seufzte. Laut ausgesprochen hörte sich das Ganze schon ziemlich verrückt an – selbst in ihren eigenen Ohren. Ich
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