Hafenweihnacht
wandern.
Schielins Unzufriedenheit gründete nicht im Verhalten dieses untersetzten, alternden Kriminellen, sondern in der mageren Beweislage. Es fehlten die klassischen Spuren, die den Weg zu dem Täter weisen konnten – Fingerabdrücke, Fasern, DNS. Und sie wussten noch immer wenig vom Menschen Jochen Drohst. Aus welchem Grund hätte Zindl derart brutal vorgehen sollen? Wegen eines Handys und einer Brieftasche?
So wie sich der Obduktionsbericht las, war Drohst, bevor er ins Wasser geraten war, durch die Verletzung am Kopf zu Boden gegangen. Wäre Zindl derjenige gewesen, der ihn attackiert hatte, wäre genügend Zeit gewesen zu verschwinden. Vom Mangturm aus gab es mehrere Möglichkeiten im mittelalterlichen Gassengewirr der Insel unterzutauchen. Und wenn er Drohst richtig einschätzte, dann war der nicht sonderlich sportlich gewesen. Dem hätte auch Zindl davonlaufen können. Das Geschehen passte nicht so recht in die Kriminellenkarriere Zindls – Eigentums- und Betrugsdelikte. Der war ein skrupelloser Betrüger und Dieb, aber war er auch in der Lage einen Menschen zu töten? Wie auch immer. Schielin verbannte seine Gedanken. Er hatte den Haftbefehl, es war der erste Adventssonntag und vielleicht würden einige Tage Haft bei Zindl doch noch die Bereitschaft fördern, etwas mehr über die Geschehnisse in der Nacht zu berichten. Zu schaffen machte ihm die selbstbewusste Aussage des Anwalts, dass man sich binnen einer Woche erneut treffen würde. Zuvor war er zurückhaltend gewesen, doch dieser letzte Satz hatte so geklungen, als hätte er etwas Stichhaltiges, das zur Entlastung Zindls beitragen würde. Bis zu einem erneuten Termin brauchten sie schlüssigere Beweise, mussten mehr über die Beziehung zwischen Zindl und Drohst erfahren – sofern es eine gegeben hatte.
*
Nach dem Termin ging Schielin zurück in den Hafen, wo bereits dichtes Gedränge herrschte. Auf der Terrasse des Hotels Helvetia bastelten Kinder mit unvermuteter Hingabe Weihnachtsschmuck und inmitten der Menge war die Kälte wie verschwunden. Von den Buden her zogen Wärmewolken durch den Hafen, die immer wieder die bekannten, wohltuenden Gerüche mit sich trugen. Schielin schnupperte – das süße Aroma gebrannter Mandeln mischte sich mit dem benebelnd-schweren Duft von Glühwein und den kräftigen Dünsten verschiedener Grillstationen. Vom Hafen her dröhnten die Lautsprecher der Schifffahrt, die zur Nikolausfahrt einluden und über allem lagen die Weisen des Musikvereins Aeschach, der von der Weihnachtsbühne aus die profanen Geister des Postillions vertrieb, die Schielin noch in den Ohren steckten. Endlich war die Adventszeit angekommen. Seine Stimmung hob sich und die Insel, die seit einigen Wochen geschlafen hatte, war wieder zu Leben erwacht. Seine Erinnerungen gingen weit zurück, in die Zeit, als er hier groß geworden war, auf den Gassen, in den versteckten Innenhöfen, zwischen Gleisen und Hafen. Und es wurde ihm noch deutlicher bewusst: Wer auf einer Insel aufwuchs, ganz umgeben vom Wasser und den von ihm beeinflussten Zuständen, seinen Geräuschen, der war anders, der musste anders sein fürs Leben. Der war Insulaner, ob er nun wollte oder nicht. Das ging ihnen nicht nur in Lindau so. Er erinnerte sich an Paris und die Île de la Cité, auf der mitten in der Stadt ein eigenes Pariser Völkchen, mit eigenem Bewusstsein und eigenem Stolz existierte.
Er suchte die Bude mit den Schnitzereien auf, an der er den geschnitzten Esel entdeckt hatte. Das musste der Stand sein, an dem Zindl das Handy gefunden haben wollte. Beim Gedanken an das Wort gefunden presste Schielin die Lippen aufeinander. Vor der Bude ging es eng zu und ihm war es unangenehm den Schnitzer aus Stockenweiler mit seinen Fragen vom Geschäft abzuhalten.
Wie er erfuhr, hatte Jochen Drohst vor einigen Tagen plötzlich an der Bude gestanden und die Schnitzereien bewundert. »Ein komischer Kerl, irgendwie. Aber er hat sich über die Figuren ehrlich gefreut. Hat man selten, so, bei Erwachsenen. Er wollte bei der Arbeit helfen und war ganz begeistert von seiner Idee. Da hab ich halt gesagt, er könnte mit am Stand dabei sein. Ja und dann, wo er gebraucht worden wäre, am Freitag, da war er verschwunden. Ist nicht mal mehr ans Handy gegangen.«
Schielin überlegte einen Moment, entschied sich dann aber doch dazu, zu sagen, weshalb Drohst nicht mehr erschienen war.
*
Zu Hause angekommen, hätte Schielin am liebsten Ronsard von der Weide geholt und wäre für ein, zwei
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