Hahn, Nikola
in den Mund lebte, verwahrloste
Kinder, zahnlose Krüppel, vor der Zeit grau und krumm gewordene Frauen.
Aber
sie hatte auch anderes gesehen, Baublöcke mit schmucken kleinen
Arbeiterwohnungen, Gemeinschaftsküche, Leseräumen und Kinderhort, eine Herberge
für Schulentlassene und eine von der Gewerkschaft eingerichtete Arbeiterbibliothek.
Daß sich die wegen ihres sozialen Gewissens und ihrer Hochherzigkeit gerühmten
Herren Rössler und Merton als Großunternehmer entpuppten, hatte sie erstaunt,
ebenso, daß der Leiter des städtischen Armenamtes von seiner Klientel respektvoll
Seele der Frankfurter Sozialpolitik genannt wurde. Auch der Name Cornelia von
Tennitz war lobend gefallen, und sie freute sich darauf, die Gräfin am Freitag
kennenzulernen.
Sie
fand von Liebens Büro leer vor und war nicht böse darum, gab es ihr doch
Gelegenheit, in Ruhe die mitgebrachten Unterlagen zu studieren. Sie hatte kaum
angefangen, als Martin Heynel hereinkam. Ohne ein Wort ging er zum Fenster und
sah hinaus. Laura musterte ihn verstohlen. Abweisend sah er aus, bedrohlich wie
der alte Schattenriß in ihrem Kinderzimmer, ein schwarzer Dämon in der Nacht.
Laura versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht.
»Dieser
gottverdammte Holzkopf!« Martin Heynel drehte sich zu Laura um. Seine Augen
funkelten. »Wissen Sie, was das heißt, ein Haus zu bauen, Polizeiassistentin?
Tag für Tag Stein auf Stein zu setzen, jahrein, jahraus, mit nichts als Ihren
bloßen Händen? Und all die schlauen Maurermeister stehen grinsend um Sie herum,
mit ihren blasierten Gesichtern und ihren polierten Schaufeln und Hacken!« Er
lachte verächtlich. »Natürlich
wissen
Sie es nicht. Wer mit Goldbesteck im Maul geboren wird, braucht sich's am
Blechnapf nicht zu verbrennen.«
Laura
legte ihre Unterlagen zusammen und stand auf. »Sie sind vulgär. Und ich habe
nicht die geringste Lust, mich eine Sekunde länger mit Ihnen zu unterhalten.«
Er
faßte ihre Handgelenke, daß es weh tat. »Ich lasse mir nicht alles
kaputtmachen! Von Ihnen nicht, von Biddling nicht, und von so einem
hergelaufenen Rotzlöffel schon gar nicht!«
»Erstens
habe ich keine Ahnung, von was Sie reden, und zweitens glaube ich, Sie leiden
an Verfolgungswahn, Herr Heynel. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst los.«
Er ließ
seine Hände sinken und sah sie an. Sie wußte, was geschehen würde, und sie
wollte, daß es geschah. Sein Haar roch nach Tabak, seine Lippen waren rauh. Und
ihre Küsse voller Verzweiflung und Verlangen.
Othild
Cäcilie von Ravenstedt trug ein blaues Kleid unter einem grauen Mantel und
einen nachlässig festgesteckten Hut. Sie zwinkerte Richard zu. »Wäre es zuviel
verlangt, wenn Sie mir verraten, was diese kleine Komödie zu bedeuten hat, Herr
Biddling?«
»Wenn
jemand über Schmierentheater Auskunft geben sollte, dann Sie, gnädige Frau.«
»Warum
sind Sie denn so unhöflich, Herr Kriminalbeamter?«
Richard
nickte den beiden Schutzmännern zu, daß sie gehen konnten und wartete, bis sie die
Tür hinter sich geschlossen hatten. »Ich hoffe, Sie sind wenigstens nüchtern
genug, meinen Fragen zu folgen.«
»Ob ich
nüchtern oder betrunken bin, geht Sie gar nichts an.«
»Was
sollte der Zirkus am vergangenen Samstag?«
Sie sah
ihn verwirrt an. »Bitte?«
»Warum
geben Sie sich als Signora Runa aus, Frau von Ravenstedt?«
Sie
nahm ihren Hut ab und setzte sich. »In meinem Gewerbe ist es üblich, mehr als
einen Namen zu tragen.«
»Ist es
in Ihrem Gewerbe auch üblich, Polizeibeamte zu bedrohen?«
»Ich
weiß nicht, was Sie meinen.«
"Das
Geheimnis ist für die Glücklichen, das Unglück braucht keinen Schleier mehr!«
Sie
lächelte. »Es höre, wer es will, daß wir uns lieben. Wozu es noch verbergen? Friedrich Schiller, Wallenstein. Sind Ihre Verhöre immer so
literarisch?«
»Das
ist kein Scherz, gnädige Frau!«
»Nein,
ein Trauerspiel. Aber eine Drohung vermag ich darin beim besten Willen nicht zu
erkennen.«
Sie
hatte recht. Es war ein Literaturzitat, nichts weiter. »Warum diese ganze Maskerade?«
»Der
Ruf der Laterna als diskretes Haus gründet sich nicht zuletzt auf dem
Glauben, daß die Chefin eine Dame aus bester Gesellschaft ist.« Sie lächelte.
»Fräulein Zilly fehlte es da sicherlich an Renommee.«
»Aber
offenbar nicht an Geld.«
»Ich war
keine Anfängerin mehr, als ich nach Frankfurt kam.«
»Sie
haften vorher schon ein
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