Hahn, Nikola
sich behalten.«
Sie
nickte.
»Man
hat versucht, Ihren Mann zu erpressen.«
»Wie
bitte?«
»Vor
etwa drei Jahren bekam er einen Brief mit einem Zeitungsartikel über Eduard
Könitz' Tod und einer aus Buchstaben zusammengeschnittenen Drohung, die Sache
wiederaufzurollen, sofern er nicht eine bestimmte Summe an den Adressaten
zahlt.«
Victoria
sah Heiner entsetzt an. »Und wer war der Adressat?«
»Das
hat man nie herausgefunden.«
»Aber
warum hat er denn nicht mit mir darüber gesprochen? Ich hätte doch...«
»Er hat
nicht einmal mir etwas gesagt, aber irgendwie erfuhr
der
Polizeipräsident davon; er bat mich zu einem Gespräch, und ich sagte ihm, was
ich über Eduards Tod wußte.«
»Wo ist
dieser Brief?« fragte Victoria tonlos.
»Ich
nehme an, bei den Akten. Ich selbst habe ihn nie zu Gesicht bekommen,
ebensowenig wie die später folgenden. Bis auf den letzten.«
»Es gab
mehr als einen?«
»Ja.
Der letzte wurde aus Versehen einem Kollegen zugestellt. Weil Ihr Mann an
diesem Tag nicht im Dienst war, gab er ihn mir.«
»Was
stand darin?«
»Es
waren nur drei Sätze, einer davon in Französisch. Der Rest lautete sinngemäß,
daß Goethe immer den Kern der Sache treffe, weil das Leben ein Irrtum und das
Wissen der Tod sei. Damit war der Spuk vorbei. Was ist mit Ihnen? Sie sind ja
ganz blaß!«
»Das
ist nicht von Goethe.«
»Bitte?«
»Friedrich
Schiller. Kassandra«, sagte sie leise. »Frommts, den Schleier
aufzuheben/Wo das nahe Schrecknis droht?/ Nur der Irrtum ist das Leben,/Und das
Wissen ist der Tod. Vorhin auf dem Friedhof hat jemand genau das zu mir
gesagt.«
»Wer?«
fragte Heiner.
»Ein...
Bekannter. Aber - das kann ein Zufall sein, nicht wahr?«
»Sicher.
Zumal Ihr Bekannter im Gegensatz zu dem anonymen Briefschreiber bestimmt
wußte, wer der richtige Verfasser ist. Im übrigen kennen Sie selbst das Zitat
ja auch.«
»Und es
gab wirklich keinen Verdacht?«
Er
schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, ob zwischen dem Erpressungsversuch
und den nachfolgenden Briefen ein Zusammenhang besteht. Vielleicht hat sich
tatsächlich jemand einen Scherz erlaubt.«
»Wie
kann man so etwas Widerwärtiges als Scherz ansehen!«
»Manche
Menschen machen sich über ihr Tun wenig Gedanken.«
Sie
hörten die Haustür. Kurz darauf kam eine junge Frau in die Küche. Ihr Gesicht glühte
vor Aufregung. »Herr Braun, jetzt streiken wir! Mit Mann und Maus. Die
ganze...« Sie sah Victoria und brach ab.
»Frau
Victoria Biddling, Fräulein Lisa Zeus«, stellte Heiner Braun sie vor.
»Guten
Tag, gnädige Frau.« Abschätzig betrachtete sie Victorias Kleid. »Unsereins
speisen sie mit Hungerlöhnen ab, von denen man nicht leben und nicht sterben
kann, und sonntags fahren sie vierspännig durch die Stadt, und grinsen sich
eins. Und wir müssen schuften von früh bis spät und kriegen nicht mal ein paar
Kleideraufhänger und sauberes Wasser zum Waschen!«
»Das
tut mir leid«, sagte Victoria.
Lisa
lachte verächtlich. »Als wenn Sie überhaupt wüßten, was das ist: Leid. Aber
jetzt sollen sie mal sehen, wie weit sie ohne uns kommen, die Herren
Fabrikbesitzer! Was die Weißbinder und Metallarbeiter können, das können wir
Näherinnen nämlich schon lange! Zumachen müssen sie ihren kapitalistischen
Ausbeuterbetrieb, wenn wir nicht mehr mitspielen!« Ohne sich zu verabschieden,
ging sie hinaus.
Victoria
gab Heiner die Hand. »Ich muß nach Hause. Bitte, verzeihen Sie, daß ich Sie so
ohne Vorwarnung überfallen habe.«
»Ihr
Überfall war mir ein Vergnügen, gnädige Frau.« Er begleitete sie in den Flur
und half ihr in den Mantel. »Besuchen Sie mich bei Gelegenheit mal wieder. Pensionären
wird es schnell langweilig.«
»Gern.
Sofern Fräulein Lisa mich nicht hinauswirft.«
»Ich
halte Sie für mutig genug, gegen die ganze Fabrikbelegschaft anzutreten«,
sagte er lächelnd.
Als
Laura mittags ins Polizeipräsidium kam, war sie erschöpft, aber zufrieden. Über
die Centrale für private Fürsorge hatte sie eine neue Pflegestelle für Anna
Fricks Jungen gefunden und
außerdem
Gelegenheit gehabt, sich mit einigen Mitarbeitern bekannt zu machen. Wie in
Berlin war auch in Frankfurt die Wohnungsfrage vor allem für die Arbeiterklasse
ein drängendes Problem. Vier Stunden war sie mit einem Armenpfleger unterwegs
gewesen, und was sie gesehen hatte, stank im wahrsten Sinn des Wortes zum
Himmel: verdreckte, finstere Löcher, in denen jung und alt auf engstem Raum
zusammenhauste; Armut, die von der Hand
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