Hahn, Nikola
daran
leidet.«
»Auguste
Deter«, sagte Dr. Sioli. »Ich berichte Dr. Alzheimer regelmäßig über ihren
Zustand nach München. Wir hatten in der Vergangenheit bereits andere Patienten,
die ähnliche Symptome aufwiesen, aber bei Frau Deter sind sie besonders
augenfällig. Das Problem ist, daß das Krankheitsbild dem einer senilen Demenz
oder einer progressiven Paralyse gleicht, wie sie zum Beispiel im Endstadium
einer syphilitischen Erkrankung auftritt. Auffallend ist allerdings die
Ruhelosigkeit der Patienten. Es ist, als wollten sie dem Unvermeidlichen davonlaufen.
Wir hatten einen Mann hier, der bis zur körperlichen Erschöpfung um einen
Brunnen rannte. Selbst bei fortschreitender Krankheit erleben die Kranken aber
immer wieder lichte Momente und sogar längere Zeiten, die völlig ohne Ausfälle
verlaufen, bis sie dann eines Tages im völligen Vergessen versinken. Insgesamt
gesehen, sind diese Symptome jedoch nicht so ausgeprägt, daß man sie nicht mit
Wenn und Aber unter Demenz subsumieren könnte.«
Laura
nickte. »Ich habe in Berlin Patienten gepflegt, die unter seniler Demenz
litten. Sicherlich gab es auch bei ihnen Phasen, in denen es ihnen besser und
schlechter ging, aber im Grunde war ihr geistiger Verfall ein stetiger,
schleichender Prozeß. Und sie waren alle sehr alt.«
»Das
ist das zweite Problem, mit dem Dr. Alzheimer zu kämpfen hat. Nur wenige
Menschen werden überhaupt älter als siebzig, und wenn sie es werden, nimmt man
ihre Tütteligkeit als gottgegebenes Übel hin. Warum sollte man also eine
Krankheit erforschen, die die meisten von uns nicht bekommen können, weil wir
vorher an anderen, schlimmeren Leiden sterben? Gibt es einen bestimmten Grund,
warum Sie sich für den Fall Deter interessieren?«
»Hat
Dr. Alzheimer das nicht geschrieben?«
»Er
schrieb, daß Sie mit den verschiedensten Krankheitsfällen konfrontiert sind und
sich informieren möchten.«
»Dr.
Alzheimer ist bestimmt ein hervorragender Arzt.«
Dr.
Sioli lächelte. »Er ist vor allem ein hervorragender Menschenkenner. Darüber
hinaus verfügt er über die beiden wichtigsten Eigenschaften, die ein guter
Arzt und Wissenschaftler haben muß: den nötigen Ernst und den nötigen Humor. Da
Sie ja beruflich hier sind, kann ich Ihnen die Symptome an der Patientin
selbst erklären.«
Sie
verließen Dr. Siolis Büro und gingen durch einen lichten Flur, in dem es
geisterhaft still war.
»Die
Anlage ist großartig«, sagte Laura. »Von Berlin kenne ich Irrenanstalten nur
als düstere Verließe.«
»Ich
hatte das Glück, einen Vorgänger zu haben, der über Ernst und Humor in
besonderem Maße verfügte. Sie kennen ihn bestimmt auch.«
»Sicher
nicht. Ich bin erst kurz in der Stadt.«
»Na,
der Struwwelpeter ' ist Ihnen geläufig, oder? Dr. Heinrich Hoffmann war
siebenunddreißig Jahre lang Leiter der Anstalt
und hat
nicht zuletzt durch dieses Gebäude die Grundlage gelegt, auf der ich meine
Philosophie verfolgen kann: Geisteskranke nicht als Irre, sondern als Menschen
zu behandeln.« Er schmunzelte. »Das hat zur Folge, daß Dr. Alzheimer und ich
auf Ärztekongressen hin und wieder für verrückt erklärt werden.« Er öffnete
eine Tür, und sie betraten einen schmalen Raum, in dem zwei Betten standen. Nur
eins davon war belegt.
Hätte
Laura nicht gewußt, daß Auguste Deter Mitte fünfzig war, sie hätte sie auf
siebzig geschätzt. Sie hatte dünnes Haar und ein ausgezehrtes, von Falten
zerfurchtes Gesicht, in dem die Nase unnatürlich groß erschien. Das
Erschreckendste waren ihre Augen, die ins Nirgendwo zu blicken schienen. Dr.
Sioli sprach sie an, aber sie reagierte nicht.
»Sie
wurde Ende 1901 eingeliefert, weil ihr Mann mit der Situation nicht mehr klarkam«,
sagte er. »Ein braver Kanzleischreiber bei der Eisenbahn, der mir fassungslos
berichtete, daß seine Frau seinen Namen vergessen hatte. Sie fand sich in der
Wohnung nicht mehr zurecht, schleppte Gegenstände herum und versteckte sie an
den unmöglichsten Stellen. Von einer Sekunde auf die andere schrie sie ihren
Mann an, schlug nach ihm, beschuldigte ihn, er wolle sie umbringen. Ihr Hausarzt
schloß auf chronische Hirnparalyse. Zu Beginn dieses Jahres wurde sie zum
kompletten Pflegefall.«
»Dieses
Jahr ein vergangenes Jahr«, sagte die Kranke leise.
Dr.
Sioli beugte sich zu ihr. »Guten Tag, Frau Deter. Ich habe Ihnen Besuch
mitgebracht.«
Sie
lächelte. »Wer hat mich denn hierhergetragen eigentlich?«
»Wissen
Sie denn, wo Sie sind?«
»Im
Augenblick,
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