Hahn, Nikola
nach
Eschersheim um. So sehr sie Heiner Braun mochte, sein Verhalten gegenüber
Helena war nicht richtig. Es half nichts, die Augen vor der Wahrheit zu
verschließen. Diese Lektion hatte sie gelernt. Martin hatte ernsthaft angenommen,
alles würde so weiterlaufen wie gewohnt. Nicht mit ihr! Sollte er doch mit
seiner Vicki glücklich werden. Sie hatte pünktlich Feierabend gemacht,
demonstrativ ihren Mantel genommen und war gegangen.
Sie hatte
sich den Luxus einer Sitzkarte erlaubt in der Erwartung, auf der Fahrt ein
wenig nachdenken zu können, aber sie bereute ihre Entscheidung bald. Die
Lokomotive zuckelte mit ihren Wägelchen die Eschersheimer Landstraße hinauf wie
ein lendenlahmer Gaul, der über jede Unebenheit stolpert. Der Wind trieb Staub
durchs Fenster. Laura hatte das Gefühl, auf einer Folterbank zu sitzen. Warum
hatte sie nicht die Elektrische bis zur Holzhausenstraße genommen und war den
Rest zu Fuß gelaufen? Romantischer is die Knochemiehl, hatte ein alter
Fuhrwerker am Eschenheimer Turm gesagt, und sie war so leichtsinnig gewesen,
die romantische Knochenmühle und den Beisatz: Awwer bekömmlicher für
Ihne Ihm wertes Gesäß is ganz bestimmt die Trambahn, als Frankfurter Humor
abzutun.
Sie war
heilfroh, als sie nach kurzer Fahrt aussteigen konnte. Der Schotter auf der
Straße lag so lose, als habe er noch nie eine Walze gesehen. Fluchend trieb ein
Fuhrwerker die schwitzenden Pferde vor seinem mit Backsteinen überladenen
Wagen an. Laura querte die Straße und bog in den Affensteiner Weg ein. Über den
Dolden wilder Möhren summten Bienen. Der Anblick des Irrenhauses verschlug ihr
die Sprache. Was immer sie erwartet hatte, bestimmt kein von Gartenanlagen
umgebenes Schloß.
Am
Empfang fragte sie nach Dr. Sioli und erntete einen mißtrauischen Blick. Als
sie hinzufügte, daß sie auf Empfehlung von Dr. Alzheimer da sei, wurde der Mann
freundlicher. Er führte sie in ein kleines Arbeitszimmer. Die Wände bedeckten
Bücherregale, vor dem Fenster stand ein Schreibtisch. Laura sah nach draußen.
Im Garten harkten Männer Blumenbeete, Frauen kehrten die Wege. Der
beigestellten Aufsicht nach zu urteilen, handelte es sich um Insassen der
Anstalt.
»Es ist
besser, sie etwas tun zu lassen, als sie den ganzen Tag einzusperren«, sagte
eine Stimme in ihrem Rücken.
Laura
wandte sich zu dem Sprecher um, einem älteren, weißhaarigen Mann. »Dr. Emil
Sioli«, stellte er sich vor. »Ich bin der Leiter der Klinik.«
Daß er Klinik sagte, machte ihn Laura sympathisch. Sie gab ihm die Hand. »Ich heiße Laura
Rothe und bin
»Krankenschwester
und Polizeiassistentin.« Er lachte, als er ihr Gesicht sah. »Dr. Alzheimer hat
mir geschrieben. Sie scheinen mächtig Eindruck auf ihn gemacht zu haben.«
»Nun,
ich...« Plötzlich fehlten Laura die Worte. Wie kam sie dazu, einem wildfremden
Arzt zu erzählen, ihre Vermieterin sei dabei, wahnsinnig zu werden?
Dr.
Sioli wies auf einen Sessel. »Ich bedaure es noch immer, daß Dr. Alzheimer uns
vergangenes Jahr verlassen hat. Aber leider konnte ich ihm hier nicht länger
bieten, wonach es ihn verlangte.«
»In
München ist das Gehalt besser?« fragte Laura, froh, nicht gleich zur Sache
kommen zu müssen.
»Ach
was. Er hat nicht einmal eine zugewiesene Stelle. Aber die Universitätsklinik
bietet ihm optimale Voraussetzungen für seine wissenschaftlichen Studien.«
»Wollen
Sie damit sagen, daß er für umsonst arbeitet?«
Er
lächelte. »Ohne Bezahlung, ja, aber sicherlich nicht umsonst. Dr. Alzheimer hat
schon hier jahrelang neben seiner normalen Arbeit nachts vor dem Mikroskop
gesessen und nach den anatomischen Ursachen seelischer Krankheiten geforscht.
Jedes Gehirn, das er kriegen konnte, hat er säuberlich in Scheibchen zerlegt
und dabei eine Zigarre nach der anderen geraucht. Morgens konnten Sie ihn kaum
noch finden in all dem Qualm!« Er wurde ernst. »Sein privates Unglück ist ihm
gewissermaßen zur beruflichen Freude geworden. Als seine Frau starb, erbte er
so viel Geld, daß er es sich für den Rest seines Lebens erlauben kann, seinen
Arbeitsplatz nach wissenschaftlichen und nicht nach monetären Gesichtspunkten
zu wählen. Wenngleich es ihm bei allem Forschungsdrang anders herum sicher
lieber gewesen wäre.«
Laura
sah den sympathischen Hünen vor sich und bedauerte, nicht mehr Zeit für das
Gespräch erübrigt zu haben. »Er sagte, daß er vielleicht eine neue Krankheit
entdeckt hat. Und daß es hier in der Klinik eine Patientin gibt, die
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