Hahn, Nikola
ich hab', vorläufig, wie gesagt, Mittel habe ich augenblicklich
nicht. Man muß sich eben, ich weiß selber nicht, ich weiß gar nicht - ach liebe
Zeit - was soll denn?«
Dr.
Sioli streichelte ihre Wange. »Schlafen Sie ein bißchen.«
Laura
sah plötzlich Helena Braun vor sich. Sie drehte sich um und ging.
»Es ist
kein schöner Anblick, ich weiß«, sagte Dr. Sioli, als er in den Flur kam.
»Kann
man denn gar nichts dagegen tun?«
Er
zuckte die Schultern. »Die Krankheit ist unheilbar, aber nicht unmittelbar tödlich.
Frau Deter ist seit zweieinhalb Jahren hier. Wir hatten andere Patienten, die
viele Jahre damit lebten.«
»Das
ist kein großer Trost.«
»Das
kommt darauf an, wie man es sieht. Je weiter die Krankheit voranschreitet,
desto ruhiger werden die Patienten. So sehr sie zu Beginn leiden, so zufrieden
erscheinen sie zuletzt. Sie leben in einer Welt, in der sich das Gestern
aufgelöst hat und das Morgen keine Rolle mehr spielt, kein schmerzvolles
Erkennen des Verfalls, keine Erinnerung mehr an irgendwas. Wenn Sie Auguste
Deter einen Spiegel vorhalten, lächelt sie. Sie sieht nicht die alte Frau, sie
sieht das junge Mädchen. Sie weint nicht, schreit nicht, klagt nicht. Sie hat
sich verloren, sie lebt hier und jetzt und überall. Wie in einem endlosen
Traum.«
»Ein
Alptraum für die Angehörigen.«
»Sie
sind nicht aus Berufsgründen hier«, sagte Dr. Sioli freundlich.
Laura
fuhr sich übers Gesicht. »Nein. Ich habe eine Bekannte, die entsprechende
Symptome aufweist, und nach dem Gespräch mit Dr. Alzheimer wollte ich... Es ist
furchtbar.«
»War
Ihre Bekannte beim Arzt?«
»Ihr
Mann redet ihr ein, sie sei gesund!«
»Auch
Herr Deter hat sich bis zuletzt gegen die Wahrheit gesträubt. Kann man es ihm
verdenken?«
»Nein«,
sagte Laura. »Sicher nicht. Ich bedanke mich für Ihre Geduld, Dr. Sioli.«
Er gab
ihr die Hand. »Versuchen Sie, Ihre Bekannte zu überreden, einen Arzt zu
konsultieren. Vielleicht machen Sie sich unnötig Sorgen, und die Ursache ihrer
Beschwerden ist eine ganz andere. Wenn Sie es für hilfreich halten, wäre ich
gerne bereit, mit ihrem Mann zu reden. Sollten Sie an Forschungsergebnissen
interessiert sein, könnte ich Ihnen Abschriften zusammenstellen und zukommen
lassen.«
»Das
wäre sehr freundlich. Ich wohne Rapunzelgäßchen 5.«
Er stutzte.
»Im Haus von Wachtmeister Braun?«
»Ja.
Warum?«
»Herr
Braun war hier.«
Laura
hatte sich in ihrem Leben noch nie so geschämt.
Maria
las seelenruhig die Zeitung, während Karl Hopf mit gebeugtem Kopf vor ihr stand.
»Zu korpulent, soso. Sag, findest du mich korpulent?«
»Sie
sind vollkommen, Signora.«
»Ach?«
»Es tut
mir aufrichtig leid, daß Emanuela
»Ich
werde ihre Entschuldigung nicht annehmen!«
»Ja.«
Sie
genoß es, ihn nervös zu sehen. 'Entfettungskur auf chemischem Wege klingt
interessant. Gehört so was auch zu deinem Repertoire?«
»Ich
führe andere Studien durch.«
Sie
lachte. »Was hast du eigentlich mit meiner Schwester vor?«
»Bitte,
Signora! Ich kann Ihnen erklären...«
»Ich
will nicht, daß du dich zu viel mit ihr abgibst. Sie ist völlig phantasielos,
wenn du verstehst, was ich meine.« Ihr Gesicht verzog sich. »Außerdem bin ich
nachtragend.«
Auf
seiner Stirn standen Schweißtropfen. »Ich werde tun, was Sie von mir verlangen,
Signora.«
Maria
machte eine verächtliche Handbewegung. »Emanuela soll mir die Pelzstola
bringen!«
Zwei
Stunden später wartete Karl Hopf vor dem großen Spiegel im Foyer des
Könitzschen Palais' im Untermainkai. Er trug eine lederne Mütze und einen
knöchellangen Staubmantel. In der Hand hielt er eine Maske und einen Koffer. Er
lächelte, als er Victoria sah. »Ich war zufällig in der Stadt und dachte
»Ich
bin es zwar gewöhnt, daß Sie ohne Vorankündigung erscheinen«, sagte sie. »Aber
heute habe ich wirklich keine Zeit.«
Das war
gelogen, doch sie wollte nach der Versöhnung mit Richard nicht gleich wieder
den nächsten Anlaß für Unfrieden schaffen.
Auf
seinem Gesicht machte sich Enttäuschung breit. »Das ist sehr schade.«
Flora
sprang die Treppe herunter. »Guten Tag, Karl!« Sie zeigte auf den Koffer.
»Willst du verreisen?«
Er
schüttelte den Kopf. »Ich wollte dich und deine Mutter zu einem
Automobilausflug einladen. Aber offenbar habe ich den falschen Zeitpunkt
erwischt.«
»Du
hast ein Automobil? Wo denn? Zeigst du's mir?«
Hopf wandte
sich an Victoria. »Bitte, gnädige Frau, erweichen Sie Ihr Herz. Das Wetter ist
zu
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