Hahn, Nikola
so
blau wie Saphir. Flora sah traurig auf die beiden leeren Stühle neben sich.
»Schade, daß Papa und Vicki nicht hier sind.«
»Dein
Vater wird sicher bald kommen.«
»Weißt
du, was Vicki gestern abend zu mir gesagt hat? Daß
sie uns
alle haßt und keine Lust hat, mit Lügnern in einen Wagen zu steigen.«
»Das
hat sie nicht so gemeint, Liebes.«
»Doch!
Sie...«
»Schau,
da kommt der erste Rennwagen!«
Mit
einem von Detonationen unterbrochenen Fauchen näherte sich ein weißes,
kastenförmiges Gefährt und stoppte an der Startlinie, einer schwarzen
Markierung innerhalb der Tribünenanlage. Das Gesicht des Fahrers bedeckte eine
Staubmaske, aus der die Spitze eines blonden Kinnbartes herausschaute. Um
Punkt sieben Uhr ertönte ein Trompetensignal. Die Startfahne senkte sich. Mit
ohrenbetäubendem Donnern fuhr der Wagen an.
»Jenatzy!
Jenatzy!« klang es von den Rängen. Der Fahrer legte zum Gruß die Hand an die
Kappe, passierte die Saalburg in kerzengerader Linie und verschwand. Die
Kapelle auf der Tribüne spielte ein Konzertstück, vor dem Kaiserzelt wurde ein
Schattenschirm aufgestellt. Schnaubend und knatternd fuhr der zweite Wagen vor;
Benzingeruch wehte bis zur Empore hinauf.
Es
dauerte knapp zweieinhalb Stunden, bis Jenatzys Wagen wieder auftauchte und von
Jubelrufen begleitet in die zweite Runde entschwand. Bis zum Mittag stieg die
Hitze ins Unerträgliche, die Ränge leerten sich. Auch Victoria und Flora verließen
ihre Plätze. Die Menschen parlierten und flanierten, schrieben
Ansichtspostkarten, packten Proviantbeutel aus, aßen, tranken, lachten.
Inmitten
des Trubels fühlte sich Victoria einsam. Nur Floras Begeisterung und die
Erwartung, daß Richard bald kommen würde, hielt sie davon ab, nach Hause zu
fahren. Auf dem Weg zurück zur Tribüne sah sie Karl Hopf, der sich vor der
Behelfspost mit einem Reporter unterhielt. Als er sie bemerkte, beendete er
das Gespräch und kam zu ihr. Lächelnd nahm er ihre Hand und deutete einen Kuß
an. »Ich konnte leider nicht eher kommen. Habe ich etwas Wesentliches verpaßt?«
»Ach
was«, sagte Flora. »Herr Jenatzy wird sowieso gewinnen.«
»Und
was macht dich da so sicher?«
»Er
fährt über achtzig Kilometer in der Stunde!«
»Das tut
sein französischer Kontrahent auch, oder?«
»Aber
unsere weißen Rennautomobile sind die schönsten!«
»Die
Belgier sagen bestimmt, daß die gelben viel schöner sind, und die Italiener
finden Schwarz besonders reizvoll.«
»Und
die Franzosen setzen auf Hellblau«, sagte Victoria schmunzelnd. »Ich glaube,
Thery gewinnt.«
»Mama!«
sagte Flora entrüstet.
Getöse
lag in der Luft, die Menschen reckten die Hälse, und wie zur Bestätigung
knatterte der blaue Wagen des Franzosen, begleitet von stürmischen Rufen, in
die letzte Runde. Ein Mann malte die Rundenzeit 1.29.5 7auf eine große
Leinwand.
»Acht
Minuten Vorsprung«, sagte Hopf. »Sie könnten recht haben, gnädige Frau.«
»Bestimmt
geht bald was dran kaputt«, hoffte Flora. Victoria und Hopf lachten. »Bist du
mit deinem Automobil da, Karl?«
Hopf
schüttelte den Kopf. »Ich gestehe: Das war nur ausgeliehen, und ich mußte es
zurückgeben.«
»Später
werde ich auch Automobil fahren!«
»Ich
dachte, du willst Ballon fliegen?«
»Es
heißt Ballon fahren.«
»Ja, ja,
du Naseweis.« Er sah Victoria an. »Ist Ihr Mann nicht hier?«
Victoria
schüttelte den Kopf. »Er kommt nach.«
Hopf
sah auf seine Uhr. »Das ist inzwischen unwahrscheinlich, oder?«
Victoria
schwieg. Sie wußte nicht, ob sie traurig oder wütend sein sollte. »Wenn du
willst, kannst du dich zu uns setzen«, lud Flora ihn ein. »Vickis Platz ist
auch frei.«
Hopf
sah Victoria an, aber sie hatte keine Lust auf Erklärungen. Um Viertel vor
fünf fuhr Jenatzy ins Ziel, Thery war zehn Minuten schneller. Auf den Rängen winkten
die Menschen mit Tüchern und Hüten, der Kaiser klatschte Beifall. Victoria entschied,
vor dem Zieleinlauf der anderen Fahrer aufzubrechen und handelte sich zwei
enttäuschte Mienen ein.
Die
Heimfahrt wurde zur Qual. Sie mußten mehreren Heuwagen ausweichen, und die
Automobile vor ihnen rollten Schmutzwolken auf, daß man kaum mehr bis zum
Straßenrand sehen konnte. Ihre Fanfaren klangen wie Nebelhörner in dem Meer aus
Staub. Victoria war froh, als sie die Stadt erreichten. Am Polizeipräsidium
ließ sie halten und fragte nach Richard.
»Es tut
mir leid, gnädige Frau«, sagte der Wachbeamte. »Ihr Mann war den ganzen Tag
über nicht hier. Viele Beamte
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