Hahn, Nikola
das Fenster.
Die ersten Vögel sangen in der Dunkelheit. Er zog sich an, ging zu Vickis
Zimmer und lauschte an der Tür.
»Sie
schläft«, sagte Victoria in seinem Rücken. »Wir reden mit ihr, sobald wir
zurück sind, ja?«
Richard
nickte, obwohl er nicht glaubte, daß ihr Zerwürfnis mit einem Gespräch zu
bereinigen war. Beim Frühstück bemühte er sich, eine fröhliche Miene zu
machen, aber es fiel ihm schwer. Louise kam herein. »Soeben wurde eine
Nachricht für Sie abgegeben, gnädiger Herr. Ich soll Sie Ihnen sofort und
persönlich geben. Es sei sehr wichtig.« Richard riß den Umschlag auf.
»Was
ist?« fragte Victoria.
»Eine
dringende dienstliche Sache. Ich muß sofort ins Präsidium.«
»Papa!«
sagte Flora enttäuscht. »Du hast gesagt...»
Er
strich ihr übers Haar. »Ich nehme eine Droschke und komme nach, ja?«
»Schwör
es!«
»Bei
allem, was mir lieb ist: Ich komme, so bald ich kann.« Er sah Victoria an. »Es
tut mir leid.«
Sie
hatte Mühe, nicht zu weinen.
Der
Junge zeigte die Straße entlang. »Do vonne isses!« Richard wollte etwas sagen,
aber er lief davon. Das Automobil war rot und hatte den Aufdruck der Adlerwerke
an der Seite. Richard nickte dem Fahrer zu und stieg ein. Niemand sprach ein
Wort. Sie fuhren über die Untermainbrücke und folgten der Forsthausstraße in
Richtung Stadtwald. Als sie in die Sandhöfer Allee abbogen, wußte Richard,
wohin es ging. Auch wenn er nicht verstand, warum. Sein Herz fing an zu
klopfen, aber er hätte nicht sagen können, ob aus Angst oder vor Erwartung. Geister
der Toten. Nichts war Zufall gewesen.
»Bitte
warten Sie an der Bethmann-Schule auf mich«, sagte Cornelia von Tennitz, als
ihr Kutscher sie am Seitentrakt des Polizeipräsidiums absetzte. Der Horizont
zeigte zaghaft den Morgen an, irgendwo sang ein Vögel. Cornelia raffte ihr
Kleid und ging zum Eingang der Präsidentenwohnung.
»Ich
muß sofort mit Herrn Scherenberg sprechen«, sagte sie, als ein Mädchen öffnete.
»Es tut
mir leid, Frau Gräfin. Der Herr Polizeipräsident ist vor einer Stunde nach
Homburg zum Gordon-Bennett-Rennen
»Dummes
Zeug!« fiel ihr Cornelia ins Wort. »Ich habe telephonisch mit ihm gesprochen.
Er erwartet mich.«
»Aber
ich bin sicher...»
»Papperlapapp!
Schauen Sie nach.«
»Ja,
aber...«
»Wollen
Sie Ihre Stellung aufs Spiel setzen?«
»Nein, Frau
Gräfin. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«
»Sagen
Sie ihm, die Sache ist ungeheuer wichtig und verträgt keinen Aufschub!«
Das
Mädchen nickte und verschwand. Kurz darauf kam sie zurück. »Wie ich sagte,
gnädige Frau! Der Herr Präsident ist Verwirrt brach sie ab. Gräfin von Tennitz
war gegangen.
*
»Der
Kaiser kommt!«
Ein
junger Bursche zeigte auf einen Reiter in Husarenuniform, der im Galopp die
Straße von Homburg herauf preschte. Passanten zogen den Hut, Kinder winkten,
ein Trupp Feuerwehrleute salutierte. Männer in überreich dekorierten Uniformen,
Damen in eleganten Seidenroben huldigten ihm, als er vor dem mit römischen
Adlern geschmückten Kaiserzelt absaß.
»Das
sind alles sehr wichtige Leute, nicht wahr?« sagte Flora.
Victoria
lächelte. »Ach was, Liebes. Die sehen nur so aus.«
Eine
Viertelstunde später traf die Kaiserin ein, und ihre Toilette bot diversen
Damengrüppchen Anlaß, ausführlich zu erörtern, daß weiße Puffärmelkleider aus
chinesischer Seide, fliederfarbige Strohhüte mit schwarzgetupften Schleiern
und Musselinpelerinen die aller neueste Mode seien.
Je
näher der Rennbeginn rückte, desto stärker schien der Besucherstrom
anzuschwellen. Reiter, Fußgänger und Fahrradfahrer teilten sich die
Zufahrtstraßen zur Saalburg mit Droschken, Automobilen und Equipagen; aus dem
Bahnhof der Elektrischen quollen die Menschen im Takt ankommender Züge. Ein
berittener Gendarm erteilte Absperrweisungen, Soldaten in Feldmarschausrüstung
bezogen hinter Drahtzäunen Stellung. Vor einer mit Reichspost überschriebenen
Behelfshütte redeten Journalisten Italienisch, Englisch und Französisch
durcheinander, an der Tribünenanlage traf ein Trupp Polizeiwachtmeister ein.
Victoria
dachte an Richard, als sie an ihnen vorbeiging. Er hatte recht gehabt: Ihr Vater
hatte es sich nicht nehmen lassen, die teuersten Plätze zu wählen, aber es
waren zugleich die schönsten. Die frisch besprengte Rennstrecke glänzte in der
Sonne wie ein geplättetes Seidenband, das renovierte Römerkastell erhob sich
trutzig vor sattgrünen Taunuswäldern. Und über allem spannte sich ein Himmel
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