Hahn, Nikola
über die Beobachtung in Kenntnis zu setzen. Aus
Gründen der Diskretion können wir unsere Namen nicht nennen.
In der
Bibliothek war es still und düster wie in einer Gruft. Auf dem Tisch vor dem
Kamin brannte eine Kerze. Victoria wußte nicht, ob es Morgen oder Abend war,
und es interessierte sie auch nicht. Sie strich über den abgegriffenen Einband
des schmalen Buches, schlug die vergilbten Seiten auf. Die Buchstaben schienen
im flackernden Licht zu tanzen. Haben Sie etwa das ganze Buch auswendig
gelernt? Nein, nur das, was wichtig ist, Herr Kommissar. Nichts war mehr
wichtig. Ihre Tränen tropften aufs Papier.
»Guten
Tag, Victoria«, sagte Heiner Braun von der Tür. »Sie sollten ein bißchen Sonne
hereinlassen.«
»Wozu?«
Er zog
die Vorhänge zurück und öffnete die Fensterläden. »Damit Sie den Sommer sehen.«
»Richard
kann den Sommer auch nicht mehr sehen.« Sie klappte das Buch zu. »Mit Detektiv
Dupin hat es damals angefangen«, sagte sie leise. »Erinnern Sie sich, als ich
bei Ihnen war, um wegen Eduard auszusagen? Richard hat mir dieses Buch nach dem
Verhör geschenkt. Und ich wußte nicht, ob ich ihn lieben oder hassen sollte.«
»Wir
waren nicht besonders nett zu Ihnen, hm?«
»Bitte...
Er würde doch nicht gehen, ohne ein einziges Wort?«
Heiner
Braun setzte sich zu ihr. »Sie hatten mich gebeten, Ihnen das Ergebnis der
ärztlichen Untersuchung mitzuteilen, Victoria.« Mit behutsamen Worten erklärte
er ihr das Autopsieergebnis. Auch Laura Rothes Feststellung verschwieg er
nicht.
Victoria
zerknitterte ihr Taschentuch. »O Gott. Und ich habe nichts von seiner Krankheit
gewußt, nicht einmal etwas geahnt.«
»Mir
hat er auch nichts gesagt. Und Fräulein Rothe wüßte ebenfalls nichts, wenn sie
nicht zufällig in sein Büro gekommen wäre.«
Victoria
fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. »Niemand bringt ihn mir wieder
zurück. Aber daß er kein Vertrauen gehabt hat, daß ich schuld sein könnte
»Bitte
machen Sie sich nicht solche Vorwürfe. Noch steht nicht zweifelsfrei fest, ob
es wirklich Selbstmord war.«
»Aber
Kommissar Beck sagt
»Der
Vorgesetzte Ihres Mannes läßt nach wie vor in alle Richtungen ermitteln.«
Heiner Braun drückte ihre Hand. »Wenn sie im Präsidium die Wahrheit nicht
herausfinden, werde ich es tun. Das verspreche ich Ihnen.«
Polizeirat
Franck bekam den Brief am Dienstag kurz vor dem Mittagessen, also zu einem
denkbar schlechten Zeitpunkt. Er war an ihn persönlich adressiert, hatte keinen
Absender und weder Anrede noch Unterschrift.
Man hat
Biddlings Abschiedsbrief verschwinden lassen. Fragen Sie Wachtmeister Braun.
Wütend
warf er das Blatt auf seinen Schreibtisch. Er haßte Leute, die ihren Namen
nicht sagten. Er klingelte nach seinem Gehilfen und trug ihm auf, sofort
Kriminalwachtmeister im Ruhestand Braun einzubestellen.
Kommissar
Beck wirkte zufrieden, als er am Dienstag spätnachmittags von einer
Unterredung mit Polizeirat Franck zurückkam. Paul Heusohn war dabei, sein
Stehpult einzurichten. Auch die Schreibmaschine und ein Aktenschrank waren aus
Biddlings in Becks Büro umgestellt worden. Beck setzte sich an seinen
Schreibtisch und nahm die Tageszeitung zur Hand. »Sie können im Präsidium
bleiben, Heusohn.« »Danke, Herr Kommissar.«
»Ich
stelle fest, Sie sprühen nicht gerade vor Begeisterung.« »Bitte... Ich weiß,
Sie sind sehr beschäftigt. Aber hat sich vielleicht etwas aus meiner Feststellung
im Nizza ergeben?«
Beck
sah ihn verärgert an. »Davon abgesehen, daß ich es reichlich dreist von Ihnen
finde, eigenmächtig Ermittlungen vorzunehmen, nein.«
»Der
Spaziergänger sagte mir, daß er den Jungen erst um Viertel nach fünf mit dem
Herrn Kommissar vom Grindbrunnen hat weggehen sehen. Seine Frau hat aber
behauptet, Herr Biddling sei schon um kurz vor vier aus dem Haus gegangen.
Warum ließ man ihn so lange im Nizza warten? Und dann ist ja noch die Frage zu
beantworten, wie er zu diesem Ort im Wald kam und warum
»Es war
ein Selbstmord, Heusohn!«
»Aber
Herr Polizeirat Franck
»Herrgott
noch mal! Sind Sie so begriffsstutzig oder tun Sie nur so? Ein Kriminalbeamter,
der sich umbringt, ist nicht gerade gut fürs Renommee. Außerdem muß man
Rücksicht auf die Familie nehmen. Nach der Beerdigung werde ich meinen Ermittlungsbericht
vorlegen.«
»Bitte
sagen Sie mir, wo genau man ihn gefunden hat, Herr Kommissar. «
»Nein.
Es reicht, wenn Sie ungefragt am Grindbrunnen herumschnüffeln.« Der Junge
wollte etwas sagen, aber
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