Hahn, Nikola
Gesichtsfarbe des armen Doktors nach
monatelangem Hospitalaufenthalt nicht mehr allzu tropisch ausgesehen haben
dürfte, kann man aus den Beobachtungen Sherlock Holmes' genausogut den Schluß
ziehen, daß Watson den König von Zululand bekämpft hat.« Er grinste. »Holmes'
genialische Deduktionen lassen außer acht, daß es für ein Ding zumeist mehrere
Erklärungen gibt. Sie sind ein Trick des Dichters, der nie irrt, weil er den
Täter kennt, bevor er die erste Zeile niederschreibt. Daß der große Detektiv
sich brüstet, im Gegensatz zu gewöhnlichen Menschen rückwärts - also vom
Ergebnis zum Ursprung - denken zu können, entbehrt daher nicht einer gewissen
Komik. Die Wirklichkeit ist nicht immer die Wahrheit. Und wenn ein Mensch
beschließt, sein Leben...«
»Richards
Tod war kein Selbstmord!«
»Im
Gegensatz zu Holmes' Afghanistan-Deduktion war das Untersuchungsergebnis
eindeutig, oder?«
Victoria
sah ihn mißtrauisch an. »Warum wollen Sie mich abhalten, den Tod meines Mannes
zu untersuchen?«
»Abhalten?
Weshalb sollte ich?« Er nahm den Kristall. »Sagen Sie mir, welche Farbe er
hat.«
»Das
Spiel haben Sie schon mit meiner Tochter gespielt, Herr Hopf.«
Er öffnete
das Fenster und hielt den Stein in die Sonne. »Im Wald scheint er grün, unter
dem Himmel blau. Im Feuer hat er eine, im Licht alle Farben. Wie könnten wir
uns anmaßen zu sagen, welche die wahrhaftigste ist?«
»Und
welche haben Sie der Hure geschenkt?«
»Einsamkeit
ist grau. Zilly hat niemandem etwas weggenommen.« Er legte den Kristall auf den
Tisch zurück. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Victoria.«
»Sie
wollen schon gehen?«
»Ich
muß«, sagte er. »Meine Verlobte erwartet mich.«
Nach
dem Abendessen nahm Victoria die Unterlagen aus Richards Nachtschrank und fuhr
ins Rapunzelgäßchen. Helena sagte ihr, daß Heiner mit einem Bekannten
ausgegangen sei, und sie wollte gerade gehen, als Laura Rothe nach Hause kam.
»Ich habe Neuigkeiten, Frau Biddling. Wenn Sie möchten, kommen Sie doch kurz
mit.«
Victoria
folgte ihr die düstere Treppe nach oben. Es war ein seltsames Gefühl, Richards
früheres Zimmer zu betreten. Die Vorhänge hatten eine andere Farbe. Auf dem
Nachtschränkchen stand keine Photographie. Laura bat sie, Platz zu nehmen.
»Ich hoffe, es geht Ihnen wieder gut?«
Victoria
nickte. Sie legte die Briefe auf den Tisch und setzte sich. »Sie sagten, daß
Helena krank sei. In unserem Gespräch vorhin schien sie mir wie immer.«
»Seit
fast zwei Wochen hat sie keine Anzeichen der Krankheit mehr gezeigt, und Herr
Braun hat die Hoffnung, daß es doch wieder gut wird. Ich wünsche mir nichts
mehr, als daß er recht hat.« Sie lächelte. »Paul hat übrigens nicht das
geringste bißchen Verdacht geschöpft.«
»Das
ist schön.« Victorias Blick schweifte durchs Zimmer. »Wissen Sie eigentlich,
daß mein Mann früher hier gewohnt hat?« Sie zeigte auf die Dachschräge.
»Dahinter hat er mal einen Koffer von mir versteckt.«
Laura
untersuchte die Holzverkleidung. »Ein Hohlraum, tatsächlich. Und warum?«
»Ich
habe mich zuviel in seine Ermittlungen eingemischt. Aber um alte Geschichten zu
hören, haben Sie mich nicht heraufgebeten, oder?«
Laura
schüttelte den Kopf. »Ich weiß jetzt, wie Ihr Mann in den Stadtwald gekommen
ist. Er wurde von zwei Männern in der Kronprinzenstraße abgeholt. Und zwar mit
einem Automobil, wie es der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum für seine Reise
nach Italien benutzt hat. Ein roter Adler Phaeton. Ich habe extra in der
Stadtbibliothek nachgesehen.«
Am
nächsten Morgen hätte Laura um ein Haar verschlafen, und es waren einige
Minuten über die Zeit, als sie ins Polizeipräsidium kam. Sie entschied, gleich
ins Gefängnis zu gehen. Die Wache war unbesetzt. Sie war nicht böse darum, dem
unsympathischen Kröpplin nicht begegnen zu müssen. Im Hof sang ein Vogel, aus
dem Untersuchungszimmer kamen Geräusche. Laura sah auf ihre Uhr. Hatte Dr.
Reich etwa schon angefangen? Sie öffnete die Tür - und glaubte, ihren Augen
nicht zu trauen. Zouzou lag auf dem Tisch, Kommissar von Lieben stand mit heruntergelassener
Hose vor ihr. Kröpplin saß rittlings auf einem Stuhl und schaute zu.
»Guten
Morgen!« sagte Laura.
Dem
Wachtmeister gefror das Grinsen im Gesicht. Von Lieben fuhr herum und riß die
Hose hoch. »Verdammt! Was machen Sie hier?«
»Meine
Arbeit. Im Gegensatz zu Ihnen.«
Zouzou
kletterte vom Tisch und brachte ihr Kleid in Form. Von Lieben nestelte an den
Knöpfen seiner
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