Hahn, Nikola
Sagen Sie mir, warum, Herr
Beck.«
Sein Gesicht
zeigte keine Regung. »Ein Kind kann nichts dafür, in welche Wiege es geboren
wird. Ich hielt es für meine Pflicht, etwas zu tun. Genügt das als Erklärung?«
Es
genügte nicht, aber Heiner nickte. »Was hätten Sie mit dem Jungen gemacht?«
»Dafür
gesorgt, daß sich so etwas niemals wiederholt.«
»Haben
Sie selbst Kinder?«
»Nein.
Sie gestatten, daß ich gehe?«
»Ja,
sicher, Kommissar.« Heiner gab ihm den Brief zurück. Wenn er überhaupt noch
Zweifel an Becks Beweggründen gehabt hatte, dieses scheinbar so gleichgültig
dahergesagte Nein hatte sie endgültig zerstreut.
Als er
ins Rapunzelgäßchen zurückkam, hatte Helena Waffeln gebacken. »Wo bleibst du
denn? Ich habe auf dich gewartet«, begrüßte sie ihn vorwurfsvoll.
»Entschuldige.
Ich habe...«
»...
vergessen, auf die Uhr zu schauen«, sagte sie und lachte.
Er
küßte sie. »Ja. Ich gestehe. Dabei kann ich mir nichts Schöneres vorstellen,
als zu einem frisch gebrühten Kaffee deine köstlichen Zitronenwaffeln zu
verspeisen! Aber bevor ich mich diesem Vergnügen hingebe, muß ich schnell zu
Fräulein Frick hoch.«
Helena
legte zwei Waffeln auf einen Teller. »Vielleicht hilft es, wenn sie etwas in
den Magen bekommt. Sie sah traurig aus, als sie nach Hause kam.«
Heiner
streichelte ihre Wange. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«
Sie
hielt ihm lächelnd den Teller hin. »Aber sicher weiß ich das, du unmöglicher
Kerl.«
Abends
hatte Helena in der Stube Kerzen angezündet, Kaffee gekocht, die restlichen
Waffeln auf den Tisch gestellt und sich dezent zurückgezogen.
Victoria
freute sich über den glücklichen Ausdruck in Heiners Gesicht, aber
gleichzeitig beschlich sie eine Traurigkeit, die sie sich nicht erklären
konnte. War es die Erinnerung an die gemeinsamen Stunden mit Richard? Wollte
dieser entsetzliche Schmerz denn nie aufhören? Wenn wenigstens Vicki wieder
mit ihr reden würde! Sie dachte an
Ernsts Brief, der am Morgen gekommen war. Es war tröstlich, daß es noch einen
Ort auf der Welt gab, an dem sie willkommen war. Wie gern würde sie ihn
besuchen. Aber sie konnte doch ihre Kinder nicht im Stich lassen! Morgen war
Vickis Geburtstag... der Tag, an dem sie die Wahrheit hätte erfahren sollen.
»Dann
überrascht es Sie wohl auch nicht, daß keine der Schreibmaschinen in der
Kanzlei den entsprechenden Fehler aufweist«, sagte Laura, nachdem Heiner seinen
Bericht beendet hatte.
»Nein«,
entgegnete er. »Trotzdem sollten wir uns verstärkt um diese Maschine kümmern.
Mir geht das überraschte Gesicht der Mamsell aus der Laterna Magica nicht
aus dem Sinn. Ich werde nächste Woche ein paar Trödler nach gebrauchten Schreibmaschinen
fragen.«
Laura
nickte. »Vielleicht sollte ich noch einmal versuchen, mit Zouzou zu sprechen.«
»Können
Sie mir eine Abschrift der Haftlisten vom Juni und Juli besorgen?« fragte Heiner,
an Paul Heusohn gewandt.
»Ja.
Warum?«
»Es
schadet sicher nichts, ein paar alte Kontakte in der Rosengasse aufzufrischen.
Unter Umständen kann ich die eine oder andere Dame ja überzeugen, ein bißchen
zu plaudern.«
»Einen Versuch
ist es wert«, stimmte Laura zu.
Heiner
sah Victoria an. »Was meinen Sie?«
»Ja«,
sagte sie. Die Farben des Regenbogens sind immer im Licht. Aber was
änderte das daran, daß ein Regenhimmel grau und düster war? Die letzte Spur
hatte sich zerschlagen. Und Richard war tot. Sie stand auf. »Ich bitte Sie,
mich zu entschuldigen. Ich bin sehr müde.«
»Ich
begleite Sie nach draußen«, sagte Heiner. Im Flur half er ihr in den Mantel.
»Wir werden Erfolg haben.«
»Ja,
sicher.«
Er
berührte ihr Gesicht. »Sie müssen nur daran glauben, Victoria.« .
Sie
nahm seine Hand weg. »Bitte ... nicht.«
Er sah
sie erschrocken an. »Verzeihen Sie. Es lag nicht in meiner Absicht, Sie...«
»Ich
weiß, Herr Braun.« Ohne Auf Wiedersehen zu sagen, lief sie aus dem Haus.
Das
Kuvert lag in der silbernen Schale auf ihrem Nachtschränkchen. Victoria
Biddling. Persönlich. Untermainkai 18. Druckbuchstaben, so steif
nebeneinandergesetzt wie die Eisenstreben in dem Zaun, der den Hof säumte und
den sie nicht leiden mochte. Der Brief war in der gleichen Schrift geschrieben.
Er bestand aus einem einzigen Satz.
Alle
Schuld rächt sich auf Erden. Goethe
Kapitel
29
Morgenblatt
Montag,
29.August 1904
Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt
= Offenbach, 28.
August
Gegen
die preußisch-hessische Polizei.
Weitere Kostenlose Bücher