Hahn, Nikola
das für eine Sache gewesen war, die ihren Vater
bewogen hatte, nach Frankfurt zu kommen, aber sie hatte plötzlich Scheu,
weiterzufragen. Sie sah aus dem Fenster. Die Nacht machte dem Tag Platz. Männer
und Frauen waren auf dem Weg zu den Fabriken, ein Zeitungsjunge rief die
neuesten Nachrichten aus. »Warum hat Vater mir nie etwas von diesen Dingen
erzählt?«
Heiner
Braun wirkte auf einmal sehr müde. »Manchmal hofft man, zu vergessen, indem man
schweigt. Weil jede Erinnerung weh tut. Die Sache mit Eduard war so etwas.«
»Eduard
Könitz?« fragte Vicki. »Mutters Cousin? Der sich wegen einer unglücklichen
Liebschaft umgebracht hat?«
»Unglückliche
Liebschaft? Nein. Das heißt...» »Was haben Sie, Herr Braun?« »Das kann nicht
sein. Nein, das ist unmöglich.« Die Droschke hielt. »Was kann nicht sein?«
fragte Vicki. »Wir sind da«, sagte Heiner.
Über
dem Main ging die Sonne auf. Am Himmel hing noch der blasse Mond.
»Vicki!
Ich habe mir solche Sorgen gemacht!« rief Victoria, als sie ins Haus kamen.
»Wie
geht es Andreas?«
»Das
Fieber ist ein wenig gesunken. Er schläft.«
»Ich
gehe gleich zu ihm!« Sie gab Heiner die Hand. »Danke, Herr Braun.«
Victoria
sah ihr hinterher, als sie die Treppe hinauflief. »Wo war sie?«
»Am
Grab ihres Vaters.«
»Und
wofür hat sie sich bedankt?«
»Daß ich
bei der Hundekälte auf meinen Mantel verzichtet habe«, sagte er lächelnd.
»Trinken
Sie einen heißen Tee mit mir?«
Wenig
später saßen sie sich im Salon gegenüber. Heiner überlegte, ob er Victoria von
seinen Gedanken berichten sollte. Er entschied sich dagegen. Sie hatte genug
Probleme.
»Möchten
Sie noch eine Tasse?« fragte sie. Er nickte, und sie goß ihm nach. »Ich würde
mich freuen, wenn Sie mir ein wenig mehr vertrauten, Herr Braun.«
»Aber
das tue ich doch.«
»Irgend
etwas beschäftigt Sie. Warum sagen Sie's mir nicht?«
Tessa
kam herein. »Gräfin von Tennitz wünscht Sie zu sprechen, gnädige Frau.«
Victoria
stand auf. »Sie entschuldigen mich einen Moment?«
»Ich
komme mit.«
Cornelia
von Tennitz wartete im Foyer. Sie trug ein hochgeschlossenes blaues Kleid und
einen farblich passenden Gesichtsschleier. Sie bedachte Heiner Braun mit einem
knappen
Nicken und wandte sich an Victoria. »Wie geht es ihm?«
»Etwas
besser.«
»Ich
bestehe darauf, daß er noch heute in mein Haus gebracht wird!«
»Sobald
Andreas über den Berg ist, kann er selbst entscheiden, wohin er möchte«, sagte
Victoria.
»Ich
müßte kurz mit Ihnen sprechen, Frau von Tennitz«, sagte Heiner.
»Ich
wüßte nicht, worüber«, entgegnete sie kühl.
»Zum
Beispiel über Zillys Sohn. Und über Eduard Könitz.«
»Eduard?«
fragte Victoria überrascht. »Was
»Das
geht dich nichts an! Kommen Sie, Wachtmeister.«
Er
nickte Victoria zu. »Ich schaue nachher noch einmal vorbei.« Sie verließen das
Haus. Cornelia von Tennitz wies auf ihren Wagen. Heiner half ihr beim
Einsteigen und setzte sich ihr gegenüber. »Ich hoffe, Sie fassen es nicht als
Unhöflichkeit auf, aber es ist mir angenehmer, mit Menschen zu reden, die mir
ihr Gesicht zeigen.«
»Was
wollen Sie von mir?« fragte sie ungehalten.
»Die
Wahrheit, gnädige Frau.«
»Ich
habe Ihnen bereits alles gesagt.«
»Ich
bin sicher, das haben Sie nicht«, erwiderte er freundlich.
»Eine
hübsche Geschichte«, sagte sie, als er geendet hatte. »Finden Sie?«
»Ein
bißchen zuviel Phantasie vielleicht.« »Die Sache ist zu ernst, um darüber zu
scherzen.« »Gut, Wachtmeister. Sie wollen die Wahrheit wissen, Sie sollen sie
erfahren. Bis zum Mittag habe \ich ein paar unaufschiebbare Termine. Ich
schlage vor, ich fahre Sie nach Hause und komme am frühen Nachmittag zu Ihnen.
Aber sprechen Sie bitte mit niemandem darüber. Vor allem nicht mit Victoria.«
Heiner nickte. Er hätte viel darum gegeben, ihr Gesicht zu sehen.
Vom
Salon aus sah Victoria, wie sie davonfuhren. Was hatte Heiner Braun mit ihrer
Schwägerin Wichtiges zu besprechen, das sie nicht hören durfte? Der Gedanke,
daß er sich ausgerechnet Cornelia anvertraute, tat weh. Sie ging in die
Bibliothek und holte Ernsts letzten Brief aus ihrem Schreibtisch. ... Du
kannst Dir gar nicht vorstellen, welche Freude das für mich sein würde!
Schließlich möchte ich meine kleine Schwester wenigstens noch einmal in die
Arme schließen, bevor ich diese Welt verlasse. Nun wird letzteres zwar, so
Gott will, noch ein Weilchen dauern, aber ich hoffe dennoch, daß die
Ankündigung Deines Besuchs
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