Hahn, Nikola
diesmal ernst gemeint war.
Hopf
hatte recht. Es lag allein in ihrer Hand. Victoria nahm einen Briefbogen und
begann zu schreiben. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie Vicki erst bemerkte,
als sie neben ihr stand.
»Entschuldige
bitte, Mutter. Aber ich muß es dir einfach sagen!«
»Was
denn?« fragte sie lächelnd.
»Das
Fieber ist weiter gefallen, und der Arzt sagt, er glaubt, daß Andreas es
schafft.«
»Das
ist eine sehr schöne Nachricht.«
»Ja.«
Sie fing an zu weinen. »Ich hab' ihm so weh getan, aber ich mach's wieder gut.
Wenn er nur bald gesund wird.«
Victoria
gab ihr ein Taschentuch. »Auch wenn du es nicht für möglich hältst: Dein
Andreas ist ein zäher Bursche. Immerhin ist er ein Hortacker. Eines solltest du
aber nur im Notfall mit ihm tun.«
»Was
denn?«
»Tanzen.
Dazu hat er überhaupt kein Talent.«
Sie
lächelte zaghaft. »Es gibt schlimmere Fehler, die ein Mensch haben kann.«
Victoria
streichelte Vickis Hand. »Ich weiß, wie bitter es ist, sich am Schicksal eines
Menschen schuldig zu fühlen. Ich weiß es nur allzugut, Kind.«
»Herr
Braun hat gesagt, daß Vater dir geschrieben hat... damals, als ich geboren
wurde. Und daß ich dich danach fragen soll.«
Victoria
öffnete das Geheimfach ihres Schreibtischs und gab Vicki den Brief und Thereses
Photographie. »Das Bild hat dein Vater bis zu seinem Tod in seinem
Nachtschränkchen aufbewahrt. Und den Brief hat er nicht an mich, sondern an
Herrn Braun geschrieben. Es ist übrigens der einzige, den ich von ihm habe.«
Vicki
strich über den vergilbten Umschlag. »Welches Versprechen hat er dir denn
gegeben?« fragte sie, als sie die wenigen Zeilen gelesen hatte.
»Daß er
dich frei sein läßt.« Victoria nahm ihre Tagebücher heraus. »Das ist die ganze Geschichte.
Falls du sie lesen magst.«
»Ja,
Mutter.«
Tessa
kam herein. Sie wandte sich an Vicki. »Ihr Mann ist aufgewacht, und...» Bevor
sie ausreden konnte, war Vicki an ihr vorbeigestürmt. Victoria sah ihr lächelnd
hinterher. Sie las, was sie an Ernst geschrieben hatte und beendete den Brief
mit einem schwungvollen: Ich komme ganz bestimmt - versprochen!
Nach
dem Mittagessen brachte Tessa Victoria ein cremefarbenes Kuvert. »Das wurde
soeben für Sie abgegeben, gnädige Frau. Von irgendeinem Bengel. Für die
gnädige Witwe Biddling, bittschön, aber nur ganz persönlich, hat er gesagt.«
Der
Umschlag war unbeschriftet. Auf dem Briefbogen standen drei Wörter, in
Großbuchstaben säuberlich nebeneinandergesetzt, mit einem Ausrufezeichen
versehen.
MEMENTO
MORI, VICTORIA!
*
Heiner
wartete, bis Cornelia von Tennitz' Wagen verschwunden war und ging ins Haus.
Früher Nachmittag, hatte sie gesagt. Er sah auf seine Uhr. Genügend Zeit für
einen Besuch in
der Laterna
Magica. Laura Rothes Zimmer war leer, und er genierte sich, in ihrem
Schrank nach dem Brief zu stöbern. Aber es mußte sein.
Zum
Mittag kam er zurück ins Rapunzelgäßchen. Helena schlief. Zärtlich streichelte
er ihr Gesicht. Im Grunde genommen hätte er längst darauf kommen müssen, und doch
würde er immer noch blind im Kreis herumlaufen, wenn er nicht Vicki die
Geschichte erzählt hätte. Wie in einem Mosaik fügte sich ein Steinchen zum
anderen, obwohl das Bild längst nicht vollständig war. Zilly mochte noch so
hartnäckig leugnen - er war sich sicher, daß die Lösung des Rätsels in der Laterna
Magica lag, und daß der Kommissar es herausgefunden hatte. Bloß: wie?
Ganz
gleich, was Cornelia von Tennitz ihm erzählen würde, er mußte mit Victoria
reden, bevor er zu Kommissar Beck ging. Als es schellte, wurde Helena wach.
Heiner beruhigte sie und ging nach unten. Die beiden Männer hatte er nie zuvor
gesehen. Sie fragten höflich, ob er mitkommen wolle. Er verstand die Frage,
wie sie gemeint war: als Befehl. Er sah den Wagen und ahnte, daß er einen Fehler
gemacht hatte. Seinen Mantel zu holen, konnte ihm keiner verwehren. An der
Weißfrauenkirche setzte der Motor aus, und er war guter Dinge, daß die Zeit
jetzt reichen würde. Als sie statt in die Elbestraße über die Untermainbrücke
nach Sachsenhausen fuhren, wußte er, daß er sich geirrt hatte.
Victoria
faltete den Briefbogen zusammen und ließ anspannen. Die Fahrt ins
Rapunzelgäßchen kam ihr endlos vor. Sie hatte ein beklemmendes Gefühl, das sich
verstärkte, als sie die Tür zu Heiners Haus angelehnt fand. Sie ging hinein. Es
war niemand da.
»Suche
Sie wen?« fragte eine Nachbarin, als sie das Haus wieder verließ.
»Ja.
Herrn
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