Hahn, Nikola
unangenehmen Vorkommnisse bei der
Sittenpolizei bin ich gefordert, gerade in diesem Bereich für mehr Transparenz
zu sorgen und den Bürgern dieser Stadt das Gefühl zu vermitteln, daß wir
gewillt sind, solche Zustände nicht mehr aufkommen zu lassen. Herr
Polizeipräsident Scherenberg würde es sehr begrüßen, wenn Sie sich in der
Sache weiter engagierten. Ich habe vorhin mit dem neuen Leiter der
Sittenpolizei gesprochen. Wenn Sie möchten, können Sie sofort zurückkehren.«
»Es tut
mir leid, Herr Polizeirat. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Mit Ablauf
meiner Probezeit werde ich zum Stadtpolizeiamt nach Stuttgart wechseln.«
Er sah sie
enttäuscht an. »Dann bleibt mir nur, Ihnen für das neue Amt alles Gute zu
wünschen.«
»Danke,
Herr Polizeirat.« Der alte Polizeidiener grinste, als sie an ihm vorbeiging.
Vergnügt zwinkerte sie ihm zu. Den Krieg gewinnt man mit der letzten
Schlacht!
Victoria
erschrak, als sie Andreas sah. Er fieberte und war nicht bei Bewußtsein. Seine
Kleider waren durchnäßt und schmutzig, sein Gesicht und die Haare
blutverschmiert. »Die Treppe hinauf, rechts!« wies sie die beiden Männer an,
die ihn trugen. Sie schickte nach einem Arzt und befahl, heißes Wasser zu bereiten.
Im Flur
kam ihr Vicki entgegen. »Wo ist er? Wie geht es ihm?«
»Warte
bitte in deinem Zimmer.«
»Mutter,
ich...«
»Bitte!
Es ist keine Zeit zum Reden.«
Die
Männer hatten ihn aufs Bett gelegt. Der ältere gab Victoria eine
durchgeweichte Visitenkarte. »Die hatter einstecke gehabt. Sonst hätte mer
nämlich net gewußt, wo er hingeheert.«
»Ich
danke Ihnen«, sagte Victoria. »Sobald es geht, werde ich mich erkenntlich
zeigen.«
Der
Mann hob abwehrend die Hände. »Gehn Se fort, gnädische Frau! Des war doch
selbstverständlisch, gell, Basti?« Basti nickte. Zu seinen Füßen breitete sich
eine Wasserlache aus.
Als der
Arzt eintraf, hatten Victoria und Tessa Andreas bereits entkleidet und
gewaschen. »Die Wunde sieht schlimmer aus, als sie ist«, sagte er, während er
einen Kopfverband anlegte. »Wo hat man ihn gefunden?«
»In der
Altstadt«, sagte Victoria. »Ohne Geld und Uhr. Offenbar wurde er gestern
spätabends nach dem Besuch einer Schenke überfallen und schleppte sich mit
letzter Kraft in irgendeinen Hinterhof.«
»Er hat
die Nacht und den halben Tag im Regen gelegen? Das erklärt natürlich alles.«
»Wird
er bald wieder gesund?« fragte Vicki von der Tür.
Der
Arzt packte seine Instrumente ein. »Die Kopfverletzung ist nicht das Problem.
Vermutlich hat er sich eine Lungenentzündung geholt. Wie das enden kann,
brauche ich Ihnen nicht zu sagen, oder?«
Trotz
kalter Umschläge stieg das Fieber bis zum Abend weiter, und Andreas fing an zu
phantasieren. Vicki wich nicht von seiner Seite und bestand darauf, auch die
Nacht über bei ihm zu bleiben. Victoria wollte Einwände erheben, aber als sie
die Verzweiflung in den Augen ihrer Tochter sah, willigte sie ein. Sie strich
ihr über die Wange. »Wenn etwas ist, rufe mich bitte sofort, ja?«
»Was
habt ihr mit ihm gemacht?« kam eine scharfe Stimme von der Tür.
Victoria
fuhr herum. »Cornelia! Was tust du hier?«
»Ich
werde ja wohl nach meinem Bruder sehen dürfen!« Sie blieb vor Andreas' Bett
stehen. Der Kragen ihres eleganten Kleides reichte bis unters Kinn und wirkte
unangemessen streng. Ihr Gesicht verbarg ein Schleier. »Ich verlange, daß er
unverzüglich zu mir gebracht wird!«
»Es ist
nicht schwer zu erkennen, daß Andreas in seinem Zustand nirgendwohin gebracht
werden kann«, entgegnete Victoria.
»Genausowenig,
wie es schwer ist zu erraten, wer für seinen Zustand verantwortlich ist. Hier
wird er nicht bleiben!«
»Doch«,
sagte Vicki leise. »Er ist mein Mann.«
»Hör
auf, Theater zu spielen! Ich weiß sehr gut, daß du ihn wie den letzten Dreck
behandelt hast.«
»Noch
eine solche Beleidigung, und du gehst!« sagte Victoria.
»Es ist ja nichts Neues, daß du die Wahrheit nicht vertragen
kannst, Schwägerin.« Sie wandte sich Vicki zu. »Andreas ist ein
Träumer, er war es schon als Kind. Mehr als einmal habe ich
ihn vor dieser Ehe gewarnt, aber er wollte ja unbedingt in sein
Verderben rennen. Trotzdem bleibt er mein Bruder, und du
hast nicht das geringste Recht...«
Andreas
wurde unruhig und hustete.
»Bitte,
Tante Cornelia! Laß uns draußen weiterreden«, bat Vicki.
Cornelia
streichelte Andreas' Hand. »Du unvernünftiger Kerl!
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