Hahn, Nikola
tückischer
Novembernebel.
»Paß
doch uff, du Olwel!« rief der Chauffeur.
Richard
nickte ihm zu und ging weiter. Mehr noch als Zilly beschäftigte ihn Signora
Runa. Allem Anschein nach hatte sie das Licht gelöscht, weil sie befürchtete,
daß er sie kannte. Bloß - woher? Die Sorte Gauner, die er gewöhnlich suchte,
verkehrte nicht in den Clubhäusern und Salons der Vorstadt, in die Besucher
nur nach Vorkontrolle und in Abendrobe eingelassen wurden. In der Laterna
Magica war er heute zum ersten Mal gewesen. Woher kannte die Signora also
seinen Vornamen? Und was sollten ihre kryptischen Bemerkungen bedeuten? Ein
Unglück, das keinen Schleier braucht... Wollte sie ihm drohen? Hatte sie Angst,
seine Ermittlungen könnten etwas für sie Unangenehmes ans Tageslicht bringen?
Aber was? Und was, zum
Teufel,
bedeutete Memento mori? Daß man zur Unterhaltung mit Dirnen eine halbe
Bibliothek zum Nachschlagen brauchte, war eine völlig neue Erfahrung.
Im
Polizeipräsidium richtete ihm ein Wachbeamter aus, daß Kommissar Beck mit zwei
Schutzleuten in Bockenheim sei. In Kommissar von Liebens Büro brannte noch
Licht. Ob Polizeiassistentin Rothe etwas über Zilly herausgefunden hatte?
Richard klopfte, aber es meldete sich niemand. Als er die Tür öffnete, mußte er
lächeln. Laura Rothe saß an Liebens Schreibtisch, den Kopf auf einem Stapel
Akten, und schlief.
»Guten
Abend, Polizeiassistentin!«
Sie
fuhr zusammen. »Liebe Zeit! Ich habe Sie gar nicht gehört.«
»Lassen
Sie's gut sein. Haben Sie irgendwelche Unterlagen über Zilly gefunden?«
Sie gab
ihm eine Akte. »Die von Ravenstedts sind alter, aber verarmter Hamburger Adel.
Als ältester Tochter einer ständig kränkelnden Mutter obliegt Othild Cäcilie
schon mit vierzehn Jahren fast die gesamte Haushaltsführung. Ihre außergewöhnliche
Schönheit bleibt nicht unbemerkt, aber ihr Vater weiß jeden noch so harmlosen
Kontakt zum anderen Geschlecht zu unterbinden. An Othilds siebzehntem
Geburtstag hält ein fünfzig Jahre alter, steinreicher Graf um sie an. Ihre
Eltern zwingen sie zur Verlobung. Das erste Zusammensein mit ihrem künftigen
Gatten muß so abschreckend gewesen sein, daß Othild mit dem Pferdeknecht
durchbrennt. Sie wird aufgegriffen und zurückgebracht, reißt wieder aus, wird
von einem Matrosen schwanger, der ihr verspricht, sie mit nach Amerika zu nehmen.
Von der Familie verstoßen, vom Kindsvater sitzengelassen, bringt sie im Sommer
1879 in einer Hamburger Hinterhofspelunke einen Jungen zur Welt. Danach
verliert sich ihre Spur.
Sieben
Jahre später taucht sie als Fräulein Cilla Rebenstadt in Stuttgart auf. Vor
drei Jahren erfolgte eine amtliche Anmeldung unter ihrem richtigen Namen in
Frankfurt, zunächst in einer Pension, dann im neueröffneten Clubhaus Laterna
Magica.
Der
Rest der Akte besteht aus Anzeigen wegen Kuppelei, unzüchtigen Benehmens und
diverser Verstöße gegen die sittenpolizeiliche Aufsicht nach § 36l,6
Reichsstrafgesetzbuch.«
Richard
blätterte in der Akte. »Ich hoffe, Oberwachtmeister Heynel weiß noch ein bißchen
mehr über sie zu berichten.«
»Sobald
ich ihn sehe, schicke ich ihn zu Ihnen.« Laura stand auf und räumte die Akten
vom Schreibtisch in die Schränke zurück.
»Interessiert
es Sie gar nicht, wofür ich die Information benötige?« fragte Richard.
Sie sah
ihn forsch an. »Ich arbeite zwar erst einen Tag in diesem Haus, aber ich habe
bereits gelernt, daß Frauen auf gewisse Fragen keine Antworten bekommen.
Weshalb ich darauf verzichte, sie zu stellen.«
Richard
lachte. »Was halten Sie davon, es darauf ankommen zu lassen,
Polizeiassistentin? Im übrigen glaube ich, daß Ihr eigenmächtiges Aktenstudium
Oberwachtmeister Heynel viel weniger gefallen wird als die eine oder andere
unangebrachte Frage.«
»Ich
werde ja wohl das Recht haben, mich über die Klientel zu informieren, mit der
ich zukünftig zu arbeiten habe! Außerdem frage ich mich, warum alle Welt immer
nur von Herrn Heynel redet. Die Sittenpolizei untersteht Kommissar von Lieben,
oder?«
»Das stimmt.
Aber auch Kommissar von Lieben wird über Ihren Eifer nicht erfreut sein.«
Laura
schloß den Schrank. »Bis hinunter zum letzten Polizeidiener weiß vermutlich
jeder in diesem Präsidium, was mit Lieben los ist. Warum zieht man keine
Konsequenzen?«
»Es
gibt Dinge, die nach einem Tag nicht zu beurteilen sind, Fräulein Rothe.«
»Mit
Verlaub: Der Herr Kommissar trinkt schon etwas länger, oder?«
»Er war
mal ein guter Beamter. Und dank des
Weitere Kostenlose Bücher