Hahn, Nikola
Richard und amüsierte sich über Louises
ungläubiges Gesicht.
Die
Bibliothek lag im dritten Stock und schien aus nichts als Büchern zu bestehen.
Sie füllten Schränke und Regale, bedeckten einen Schreibtisch, Stühle, Sessel,
Teile des Fußbodens und sogar das Fenstersims: eine Phantasiewelt aus Wörtern,
in die Richard Victoria nie richtig hatte folgen können. Die Holzscheite im
Kamin glimmten. Wahrscheinlich hatte Victoria vor nicht langer Zeit noch hier
gesessen und gelesen.
Richard
ging die Regalreihen ab, als Louise mit dem Tee hereinkam. Sie räumte den
Beistelltisch vor dem Kamin frei. »Es ist eine neue Lieferung gekommen, und
Ihre Frau hatte noch keine Zeit, mir zu sagen, wo ich sie einsortieren soll«,
sagte sie entschuldigend.
»Wir
wissen doch beide, daß Victoria kein Buch wegräumt, bevor sie es nicht
mindestens zweimal gelesen hat«, entgegnete Richard mit einem Lächeln.
»Was
suchen Sie denn? Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?«
Richard
nahm einen dickleibigen Band eines Konversationslexikons aus einem Schrank.
»Ich glaube, ich habe es bereits gefunden.«
Louise
wünschte ihm eine gute Nacht und ging; Richard zog sich mit dem Buch zum Kamin
zurück. Der Tee war stark und tat gut. Unter dem Stichwort Memento mori fand
er zwei Eintragungen. Als er die erste las, wurde ihm trotz des Feuers kalt.
Lat.
»Gedenke des Todes«; ein Bildmotiv, das an den Tod gemahnen soll. In der Kunst
der Gotik, der Renaissance, vor allem aber im Barock weitverbreitet. Häufige
Symbole sind die Sanduhr u. die erlöschende Kerze. Inhaltlich ist M. mit dem
Thema des Totentanzes vergleichbar, der die Botschaft von der
Unausweichlichkeit des Todes bildet.
»Was
tust du denn hier?«
Richard
erschrak so sehr, daß er das Buch fallen ließ. In der Tür stand Victoria. Sie trug
ein blaues Neglige. Unter ihrer Nachthaube schaute eine blonde Locke hervor.
»Bitte verzeih. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Sie kam zu ihm. »Was machst
du da?«
»Ein
Wort nachschlagen.«
»Mitten
in der Nacht?«
Er hob
das Buch auf. »Memento mori. Weißt du, was das heißt?«
»Sicher«,
sagte sie lächelnd. »Gedenke des Todes: Eine sinnbildliche Erinnerung an die
Vergänglichkeit der Dinge und eine Mahnung wider die Torheit menschlicher
Eitelkeit. Gibt es einen besonderen Grund, daß du mich das zu nachtschlafender
Zeit fragst?«
»Ich
habe es unlängst jemanden sagen hören.«
»Ich
auch. Gestern, als wir in Niederhöchstadt waren. Stell dir vor, Herr Hopf hat
fast seine ganze Familie verloren. Was starrst du mich so an?«
»Dieser
Hopf hat zu dir Memento mori gesagt?«
»Ach
was! Doch nicht zu mir. Er sagte es im Zusammenhang mit seiner vor zwei Jahren
verstorbenen Frau. Ich glaube, er hat
sie
sehr geliebt.« Sie berührte sein Gesicht. »Was ist denn los mit dir?«
»Nichts.
Ich habe bloß manchmal das Gefühl, einen Haufen Gespenster zu sehen.«
»Du
solltest nachts schlafen statt zu grübeln, mein Lieber. Dann verschwinden die
Gespenster ganz von selbst.«
Er nahm
ihr die Haube ab und löste ihr Haar, küßte ihre Hände, ihr Gesicht. Behutsam
zog er ihr das Nachthemd aus. Und dann dachte er an nichts mehr, außer, daß er
glücklich war.
Kapitel
6
Morgenblatt
Sonntag, 28. Februar 1904
Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt
Raubmord auf der Zeil. Es ist sicher, daß Lichtenstein
an den Schädelverletzungen gestorben ist und die Strangulation nur erfolgte um
ihn, Ms er zum Bewußtsein kommen sollte, am Schreien zu hindern. Nachdem die
Leiche nunmehr von der Staatsanwaltschaft freigegeben ist, soll die Beerdigung
auf dem Frankfurter Friedhof erfolgen. Die Stunde ist noch nicht festgelegt.
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D ie Mauer war so hoch, daß Laura den Himmel nicht sehen konnte, die
Treppe steil und schmal, die Stufen bestanden aus Eis. Laura versuchte
vergeblich, den Fleck aus ihrem Mantel zu reiben. Sie fror. Um Irritationen
auf beiden Seiten zu vermeiden, erwarte
ich, daß Sie sich die entsprechenden Kenntnisse baldmöglichst aneignen! Laura
nickte und stieg nach oben. Ich möchte des weiteren nicht verhehlen, daß
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