Hahn, Nikola
ich
kein Befürworter einer weiblichen Polizei bin. Zwei Stufen noch. Was schauen Sie so verdrießlich,
Polizeiassistentin? Das Wetter ist trübe genug. Wasser... das Eis schmolz
unter ihren Füßen! Ich fragte nach Memento mori, Fräulein Rothe. Philipp?
Es war Philipp!
Verzweifelt
klammerte Laura sich an den mürben Fels. Sie streckte die Hand aus. Bitte...
hilf mir! Sein Lachen hallte an der Mauer wider, dann brachen Eis und Stein.
Mit einem Schrei fuhr sie hoch. Es war dunkel, und sie brauchte einen Moment,
bis sie wußte, wo sie war. Sie suchte nach Zündhölzern und machte Licht. Ihr
Gesicht war naß vom Weinen, das Federbett zu Boden gerutscht. Hoffentlich hatte
sie niemand gehört!
Sie
öffnete das Nachtschränkchen und nahm ein Photoalbum heraus. Der Einband war
abgegriffen, die Seiten gingen vom vielen Anschauen aus dem Leim. Sie drehte den
Docht der Lampe höher. Ein Kleinkinderlachen zwischen strengstolzen Eltern,
eine fröhlich winkende Vierjährige, ein Schulkind im Matrosenkleid. Das
Abschlußphoto an der Ecole superieur in Genf. Wie stolz sie gewesen war!
Die
Handelsschule in Berlin. Daheim in Königsberg. Im Garten, am Klavier. Zurück
in Berlin, ein Leben in Schwesterntracht: Jüdisches Krankenhaus, Haus Augusta,
Hilfspflegerinnenverband. Die erfahrene und gewandte Kraft Rothe, der man große
Energie und Intelligenz bescheinigte. Was nicht als Empfehlung gedacht war.
Leutnant Philipp Bender lachte trotz eingegipstem Bein. Er war der
ungezogenste Patient, den sie je gehabt hatte - und der charmanteste.
Gemeinsame Spaziergänge am Wannsee, Ausflüge im Pferdeschlitten, Frühling am
Ufer der Spree. Das letzte Bild.
Im
Kleinen Schloßgarten sangen die Vögel, die Sonne schien. Der Weg roch nach Erde
und Gras. Sie sehen so glücklich aus. Darf ich eine Aufnahme machen? Die Photographie
verschwamm vor Lauras Augen. Eine neue Stadt, ein neuer Beruf: War sie nicht
hierhergekommen, um zu vergessen? Um frei zu sein? Aber wie sollte sie das,
wenn sie noch immer die Fesseln der Vergangenheit trug?
Unter
der Asche im Ofen schimmerte es rot; Laura legte Holz nach und blies in die
Glut; Flammen züngelten hoch. Sie löste die Photos, den Säugling, das Kind, die
verliebte Frau. Das Feuer fraß sich durchs Papier: keine Bilder, keine Träume
mehr. Sie schloß den Ofen und ging zur Waschkommode. Das Wasser war kalt, die
Seife roch gut. Martin Heynel, Kriminaloberwachtmeister. Wenn Sie mir bitte
folgen würden, Polizeiassistentin? Sie lächelte. Ein neues Leben wartete -
und ein neu zu füllendes Buch.
Als
Richard am Sonntag um kurz vor sieben Uhr ins Präsidium kam, wartete Paul
Heusohn im Flur. Er hatte eine für die Jahreszeit zu dünne Jacke an und
versuchte zu verbergen, daß er fror. »Guten Morgen, Herr Kommissar.«
»Guten
Morgen, Heusohn.« Richard nahm den Schlüssel vom Rahmen. »Unsere
fortschrittliche Heizungsanlage hat einen entscheidenden Nachteil: Im
Gegensatz zu einem Ofen hat man keinen Einfluß darauf, wann angefeuert wird.
Und sonntags ist das nicht allzu früh der Fall. Wenn überhaupt.«
Der
Junge folgte ihm ins Büro. »Das macht mir nichts aus. Ich freue mich wirklich
sehr, daß ich mit Ihnen arbeiten darf.«
»Dann
fangen wir am besten gleich an.« Richard drückte ihm einen Stapel
Presseberichte, Vernehmungen und das Autopsieprotokoll in die Hand. Der Junge
ging zu Heiner Brauns Stehpult und las, Richard machte sich Notizen für die
Besprechung, die er um halb acht angesetzt hatte. Er überlegte, ob und wie er
sein Gespräch mit Signora Runa einbringen sollte. Daß er in einer Mordsache
ermittelte, in die möglicherweise eine ihrer Dirnen verwickelt war, mochte
ärgerlich und schlecht fürs Geschäft sein, aber das erklärte nicht ihre
Verachtung, ja, den unterschwelligen Haß, der gegen ihn persönlich gerichtet
schien. Oder bildete er sich das nur ein, wie Victorias unbefangene Erklärung
des Memento mori nahelegte?
» Verzeihen Sie, Herr Kommissar. Darf ich Sie etwas fragen?«
Paul
Heusohn hielt den Autopsiebericht hoch. »Was, bitte, versteht man unter«, er
kam ins Stocken, »E...kchy...mosen der Bindehäute und zyanotischer Verfärbung
des Gesichts?«
»Ekchymosen
sind stecknadelkopfkleine, selten bis zu reiskorngroße Blutungen, die bei
einem Erstickungstod auftreten, besonders gut zu beobachten an den Bindehäuten
der Augen und Augenlider«, sagte Richard. »Zyanose bedeutet Blaufärbung der
Haut infolge einer Blutstauung. Wenn ein Mensch erwürgt oder - etwa mit
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