Hahnemanns Frau
den Armen trug er Dr. Pierre Doyen.
»Er stirbt! Ich konnte ihn doch nicht einfach auf der Straße liegen lassen. Egal, was er uns auch angetan hat, er ist immer noch mein Onkel.«
»Bring ihn ins Ordinationszimmer.« Mélanie trat zur Seite und schloß hinter Sébastien die Tür, dann sah sie Rose an. »Ein paar Decken, Lappen und heißes Wasser – schnell!«
Sie legten den Sterbenden auf eine Ottomane und zogen ihm den Überzieher, die Halsbinde und die Weste aus.
Doyen fing an zu husten, Blut drang aus seinem Mund. Er schlug die Augen auf und erkannte Mélanie. »Sie?« Ungläubig starrte er sie an. »Wie kommen Sie …«, er hustete, »wie komme ich …«
»Leise!« Mélanie wischte ihm mit einem Tuch den Mund ab. »Sie sollten nicht sprechen. Sébastien hat Sie verletzt gefunden und hierhergebracht.«
Sie öffnete Doyens Hemd. Aus einer klaffenden Wunde unter dem linken Rippenbogen quoll Blut. Sie drückte das Tuch dagegen und rief nach Rose. »Wir brauchen mehr Tücher. Kompressen, Verbände.«
Doyen hustete erneut. »Es ist sinnlos, ich werde sterben.« Dann flüsterte er: »Der Tod ist kalt – aber daß Sie bei mir sind, wärmt mir das Herz.« Er griff nach Mélanies Hand und hielt sie fest. »Ich habe Ihnen so viel Schlimmes angetan, und trotzdem helfen Sie mir?« Sein Blick sah sie forschend an. »Ja, Sie würden mir das Leben retten, wenn Sie könnten. Jeder andere hätte mich zum Teufel geschickt und noch auf mich gespuckt.«
»Wer nicht verzeihen kann, Monsieur, kann nicht lieben.«
Er nickte. »Ja, und Sie können lieben. Wie sehr habe ich mich nach dieser Liebe gesehnt! Daß Sie mich nur ein einziges Mal so ansehen wie ihn … wie Hahnemann.«
»Bitte, Monsieur …«
»Ich liege hier und sterbe in Ihren Armen. Sie können mir nicht verbieten zu sagen, was mein Herz bedrückt.«
Wieder hustete er. Er bäumte sich auf vor Schmerz, ein Zittern durchzuckte seinen Leib. Als er sich wieder zurücklehnte, hielt er die Augen geschlossen, und was er sagte, war so leise, daß Mélanie ihr Ohr an seine Lippen legen mußte, um ihn verstehen zu können.
»Der Erfinder – ich habe ihn geschickt. Ich wußte ja, daß Sie Geld brauchen, und Sie sind neugierig und mutig genug, eine solche Sache anzugehen. Ich … ich dachte, wenn Sie alles verloren haben, dann werden Sie mir endlich Ihr Jawort geben.«
»Es ist gut, Monsieur; schweigen Sie.«
»Sein Name ist Joseph Burton. Er kommt aus Southampton. Madame …« Doyen sog röchelnd Luft ein. Der Schmerz trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er riß die Augen auf, der Schrecken des Todes war in ihnen, aber auch unendliche Zärtlichkeit. Nie zuvor hatte Mélanie in diesen Augen soviel Wärme und Liebe gesehen.
»Bitte, Mélanie, verzeihen Sie mir.«
»Ja, Monsieur. Ich vergebe Ihnen.«
Er lächelte und drückte ihre Hand. »Vielleicht habe ich nie wirklich gelernt, was Liebe ist, aber so gut ich es vermochte, habe ich Sie geliebt. Ich glaube, ich weiß jetzt, was zwischen uns …« Er brach ab, rang nach Atem, fing wieder zu husten an. Mélanie tupfte seine Stirn mit einem nassen Tuch ab. »… was zwischen uns stand«, fuhr er fort. »Ich wollte Sie besitzen, aber man kann Sie nicht besitzen. Nicht Sie und nicht die Liebe. Sie ist … ist wie ein Vogel … wie das Leben … nur geborgt.« Noch einmal lächelte er. »Nur geborgt«, wiederholte er, dann brachen seine Augen, und er sank in sich zusammen.
Mélanie seufzte. Eine Weile hielt sie noch seine Hand, dann drückte sie ihm die Lider zu und verließ wortlos den Raum.
Sébastien fand sie im Salon, weinend zusammengekauert vor Samuels Bild. Er setzte sich zu ihr, nahm sie in die Arme und strich ihr übers Haar.
»Seit fünf Jahren bin ich nun schon allein, und noch immer tut es so weh, an Samuels Tod erinnert zu werden«, flüsterte Mélanie. »Ich kann diese Einsamkeit in mir einfach nicht mehr ertragen.«
»Mélanie …« Sébastien hob ihr Kinn an und sah ihr tief in die Augen. »Ich muß wieder nach England – komm mit mir!«
»Nein, ich gehöre hierher.« Sie befreite sich aus seinen Armen. »Hier ist Samuels Grab, und hier werde ich bleiben.«
Sébastien seufzte. Er stützte seinen Kopf in die Hände und starrte auf seine Schuhspitzen.
»Was war mit deinem Onkel? Wo hast du ihn gefunden?«
»Ich war unterwegs zu dir. Ich hatte mir Sorgen gemacht, weil ich wußte, daß Charles nicht bei euch ist. Nicht weit von St. Augustin geriet ich in eine Barrikade. Es wurde
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