Hahnemanns Frau
ihn um einen Konsult bei ihrem Kind zu bitten.
So haben wir Zeit, Geliebte, uns für ein oder zwei Stunden zu treffen, sofern Sie den Mut aufbringen, sich bei Dunkelheit alleine durch die Straßen zu wagen. Zwar komme ich an Ihrem Haus vorbei, aber der Sicherheit halber treffen wir uns erst am Stadtturm hinter der Mauer. Von dort aus können wir ein paar Schritte auf der Promenade gehen, denn um diese Zeit wird wohl noch niemand unterwegs sein. Aber bitte, ziehen Sie Ihre Männerkleider an, schon zu Ihrem eigenen Schutz!
Ihr Sie liebender F.C.S.H.
Mélanie mußte lachen. Die Abkürzung all seiner Namen erinnerte sie an seinen Heiratsantrag. Glücklich preßte sie den Brief gegen die Brust. Und ob sie den Mut aufbringen würde, nachts allein durch Köthen zu gehen. Da hatte sie schon größere Abenteuer bestanden! Und sie würde noch sehr viel mehr wagen, als heimlich aus dem Hause und durch die Dunkelheit zum Stadtturm zu schleichen, nur um ihren Geliebten endlich wieder in den Armen halten zu können.
Ein dunkler Schatten war so plötzlich neben ihr und zog sie hinter den Turm, daß sie einen leisen Schrei ausstieß.
»Nur ruhig – ich bin es!«
Mélanie fühlte eine Hand in ihrem Nacken, die weich und warm war und sie zärtlich an sich zog.
»Samuel!« Seufzend schlang sie ihre Arme um ihn und gab sich ganz dem Kuß hin, mit dem er sie begrüßte.
»Wen hatten Sie sonst erwartet, junger Herr!«
Obwohl es so dunkel war, daß sie ihn kaum sehen konnte, wußte sie, daß seine Augen jetzt vor Vergnügen blitzten und sein Mund zärtlich lächelte. Oh, wie sie ihn liebte – diesen alten, jungen Schelm! Seinen Humor, seine Klugheit, seine Kraft! Wie sie ihn bewunderte, und wie sie es genoß, endlich zu einem Mann aufsehen zu können!
»So weit ist es schon gekommen mit mir«, flüsterte Samuel. »In dunkler Nacht hinter Türmen und Hecken ein Weib in Männerkleidung zu küssen! Und weiß Gott noch mehr zu wünschen! Schimpf und Schande über mich!« Er lachte leise. »Nicht mal als junger Bursche hätte ich so etwas Verwegenes gewagt!«
»Es gibt eben Dinge, Monsieur, für die muß man erst ein gewisses Alter erreichen«, entgegnete Mélanie im selben scherzhaften Ton.
»Ach, wie ich Ihr Lachen liebe! Wenn ich Sie nur endlich den ganzen Tag um mich haben könnte!«
»Und die ganze Nacht, Monsieur!«
»Und die ganze Nacht, weiß Gott …«
Seine Hände öffneten Mélanies Weste und tasteten sich unter das Hemd, das sie trug. Ein angenehmer Schauder ließ sie zusammenzucken, und ihre Haut unter seinen Fingern begann zu brennen. Er tastete sich über ihren Bauch zum Nabel hin, umkreiste ihn sanft und strich dann hinauf über den Bogen ihrer Rippen bis zu ihren Brüsten, die er zärtlich umschloß und eine Weile hielt, so als wolle er sie wiegen. Seine Berührungen waren so unerwartet zart, so ohne jedes Fordern, daß Mélanie erstaunt den Atem anhielt. Nicht für ihn waren diese Zärtlichkeiten gedacht, sondern als Geschenk für sie. Er gab, statt zu nehmen, das kannte sie nicht. Ein Seufzen wich aus ihrem Mund, wie der letzte Hauch einer Sterbenden, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich ein Bett mit dem geliebten Mann teilen zu können.
Ein Käuzchen rief vom Friedhof herüber, einmal, zweimal, dreimal. Dann war es wieder still.
Samuel löste sich von ihr. »Komm, Liebste, wir gehen ein paar Schritte.« Er faßte sie unter und trat mit ihr auf die Straße.
»Heute hat Charlotte mir berichtet, daß Sie auf Dr. Lehmanns Wallach schon in aller Frühe allein durch die Wälder jagten.«
»Und auch noch in Männerkleidern und auf einem Herrensattel! Vermutlich war sie entsetzt, nicht war?«
»Sie dürfen nicht so streng mit meinen Töchtern sein. Sie sind ein anderes Leben gewöhnt als das, das Sie, Madame, in Paris führen. Und dann … nach dem Tod ihrer Mutter hatten wir uns mehr und mehr zurückgezogen.«
»Ich glaube, Sie haben Frau Hahnemann sehr geliebt …«
»Was hätte ich ohne Henriette schon schaffen können? Sie war eine ganz besondere Frau. Stark. Zuverlässig. Tapfer. Auf all meinen Wegen hat sie mich begleitet, obwohl es alles andere als leicht für sie war. Elf Kinder hat sie mir geboren, von denen neun am Leben blieben. Dabei haben wir die meiste Zeit in Armut gelebt, oftmals nur in einem Raum. Weil es erst ruhig war, wenn die Kinder schliefen, habe ich nachts an den Übersetzungen gearbeitet, mit denen ich unsere Familie notdürftig am Leben erhielt. Oft gab es nur
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