Hahnemanns Frau
einen Brotkanten für uns alle und kein Holz, keine Kohlen für den Ofen. Es war ein schlimmes Leben, aber ich konnte nicht anders. Ich hätte mir und meinen Grundsätzen untreu werden müssen, wenn ich es den Kollegen gleichgetan hätte, die ihren Patienten nicht nur das Blut abzapften, sondern auch noch das Geld dazu. Die Quecksilber verabreichten, bis den Kranken die Zähne und Haare ausfielen, sie mit Opiaten und Arsenpräparaten vergifteten, um Symptome zu übertünchen … Bei Gott, es hat mich zur Raserei getrieben, mit ansehen zu müssen, daß es den Kranken ohne ärztliche Behandlung besser ging als mit ihr!« Er schüttelte den Kopf. »Nein, für nichts und wieder nichts konnte ich da mitmachen! Aber eine andere als meine Henriette hätte mich wohl gezwungen. Sie hätte auf die Kinder gezeigt und gesagt: ›Jetzt mach mal, Mann! Du hast sie gezeugt, dann sieh auch zu, wie du es anstellst, anständig für sie zu sorgen.‹«
»Aber Sie waren doch nie faul, Monsieur!«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe gerackert wie ein Pferd. Ich habe Bücher übersetzt und eigene Werke geschrieben. Ich habe Artikel verfaßt, geforscht und entwickelt, und ich habe gelehrt. Auch behandelt habe ich von Zeit zu Zeit, aber was ich auch tat, es reichte nie für ein Auskommen, das es uns ermöglichte, vernünftig zu leben. Als Medicus hingegen hätte ich uns ohne Mühe ein angenehmes Leben verschaffen können.«
»Darum liebe ich Sie, Monsieur, weil Sie sind, wer Sie sind!« Mélanie nahm seine Hand und hielt sie fest.
Eine Weile hingen sie schweigend ihren Gedanken nach. Dann sagte Samuel: »Henriette war alles für mich. Sie war meine Freundin und Verbündete, meine Frau und die Mutter meiner Kinder, meine Ratgeberin und meine Assistentin. Ich war ihr mein Leben lang treu, und ich habe sie geliebt und nach ihrem Tod sehr vermißt. Aber jetzt … gibt es Sie, Madame. Ich liebe Sie mehr als je einen Menschen zuvor, und ich brauche Sie. Ich mag nicht glauben, daß etwas Schlechtes an unseren Gefühlen sein soll. Sie nehmen Henriette nichts weg, jetzt, wo sie tot ist. Ich weiß, sie hätte Verständnis für uns.«
Sie blieben stehen, fielen sich in die Arme und hielten sich fest wie zwei Ertrinkende. Zwei Menschen, erfüllt von einer tiefen Liebe. Eine junge Frau in Männerkleidern und ein alter weiser Mann. Ein seltsames Paar.
Als sie einander wieder losließen, sah Samuel Mélanie ernst an. »Du hast nun schon so vieles für mich getan, mein Kind. Und doch muß ich dich noch um eines bitten: Ich weiß, du bist Katholikin, aber du mußt zum lutherischen Glauben übertreten. Nicht, daß es wichtig für mich wäre – ich bin Freidenker und brauche die Kirche nicht für mein Seelenheil, aber in Deutschland kann uns nur ein Priester trauen, und dazu müssen wir vom selben Glauben sein.«
»Wenn das nötig ist, werde ich es tun.«
Er nahm ihre beiden Hände und küßte sie. Dann brachte er sie zurück zum Turm.
Noch immer war es finster, aber am Horizont zog bereits die Dämmerung auf. Das gespenstische Licht am Himmel, die wenigen beleuchteten Fenster, die schwarzblauen Linien der Dächer und Türme ließen die Stadt vor ihnen wie eine große, dunkle Kathedrale wirken.
Ihr Schweigen hatte etwas Andächtiges, das Ineinandergreifen ihrer Hände war wie ein Liebesakt.
Verleumdungen
Es ging auf Weihnachten zu, und die dunkle Zeit legte sich auf Mélanies Gemüt. Viel zu selten konnte sie Samuel sehen. Seine Töchter begegneten ihr immer offener mit Feindseligkeit, intrigierten und sprachen schlecht über sie. Das kränkte und verletzte sie. Zudem befürchtete sie, daß die beiden Samuel gegen sie aufbringen könnten.
Anfangs konnte sie sich noch mit Ausritten ablenken, ging manchmal zum Schießen in den Steinbruch oder skizzierte Häuser und Menschen, die sie in der Stadt oder bei der Arbeit auf den Feldern beobachtete. Doch die Kälte, der erste Schnee zwangen sie nun schon seit Tagen, im Haus zu bleiben. Einzige Abwechslung waren die heimlichen Stunden bei Pastor Schmidt, der sie auf ihren Übertritt zum lutherischen Glauben vorbereitete, und das Studium der Homöopathie. Mélanie verschlang die Bücher und Patientenberichte, die ihr Samuel gab, und wenn Gottfried Lehmann am Abend nach Hause kam und sich mit ihr über die Fälle unterhielt, die tagsüber in der Praxis behandelt wurden, gab sie immer treffendere Antworten.
Die Lehmanns waren so freundlich zu ihr wie eh und je, aber sie war nun schon zwei Monate Gast in
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