Haie an Bord
Doc. Ich werde den Verdacht nicht los: Hier an Bord befindet sich ein Irrer! Ein völlig normal aussehender und sich normal benehmender Mensch, dessen Hirn immer neue Vorfälle aussinnt mit dem Ziel, Panik auf dem Schiff zu erzeugen. An dieser Panik will er sich dann ergötzen. Ein Sadist! Ein bisher durch Glücksumstände noch ungefährlicher Irrer – aber das kann sich schlagartig ändern. Was halten Sie davon, Doc?«
Wolff dachte nach. Die Theorie von Meesters hatte etwas Logisches an sich, und sie war vor allem die einzige plausible Erklärung. Erst McHolland, dann er, morgen vielleicht jemand anderes, der dann nicht den Mund hielt, sondern Alarm schlug und die Panik auslöste. Wenn das ein Ziel war, würden die nächsten Stunden sehr dramatisch werden.
»Es könnte so sein«, sagte er langsam.
»Wie kann man einen Irren erkennen, Doc?«
»Einen Irren dieser Form, wie wir vermuten, überhaupt nicht. Sie sagten es ja schon: Er lebt völlig normal. Er kann also hier mitten unter uns stehen. Er kann jetzt im Speisesaal sitzen und genußvoll eine Birne Helene essen. Er kann in der Bar einen English-Waltz tanzen. Er kann eine Mondscheinpromenade über Deck machen. Oder er kann unten im Maschinenraum vor den Instrumenten hocken oder als Steward gerade einen Heidsick einschenken. Man erkennt ihn nie.«
»Prost!« Meesters gab den Bericht an Bergson weiter. »Funken Sie ihn weg, Alf. Meine Herren.« Er sah die um ihn versammelten Offiziere an. »Falls von Ihnen keiner der blöde Hund ist: dreifache Wachen! Beachten Sie alles und jeden.« Meesters schob die Mütze in den Nacken. »Das ist alles, was wir können. Verhindern können wir gar nichts. Wer in dieser Minute eine Panik will, kann sie auslösen. Diese völlige Ohnmacht von uns ist zum Steinekotzen! Das Schlimmste ist, daß wir die Passagiere nicht warnen können. Wir haben hier 70 Prozent Neurotiker, Traumtänzer, potentielle Snobs und Hypochonder an Bord. Wenn man denen sagt, daß unter ihnen ein Irrer lebt, vergessen sie ihre Millionen und drehen durch. Wollen wir 200 Jammerlappen durch den Indischen Ozean schippern? Meine Herren – ich kann nur sagen: Augen auf und Schnauze halten! Ich danke Ihnen.«
Dr. Wolff blieb noch in der Kapitänskajüte, als die anderen Offiziere schon weggegangen waren. Johann Meesters steckte sich mit nervösen Fingern eine Zigarre an.
»Sie haben noch was auf der Pfanne, Doc?« knurrte er. »Braten Sie es auf, los.«
»Ich möchte jeden Menschen an Bord untersuchen.«
»Himmel, wie stellen Sie sich das vor?«
»Tarnen Sie es als Seuchenübung. So etwas gibt es zwar nicht, aber man könnte ja erklären, daß man in Gebiete kommt, wo medizinische Ausnahmezustände herrschen, und diese rechtfertigen außergewöhnliche Maßnahmen. Schließlich macht man keine Lustfahrt über den Lago Maggiore, sondern zur arabischen Piratenküste. Wenn man das Ganze auch noch in Fröhlichkeit kleidet, kann man es verkaufen. Ich aber lerne so jede Person an Bord genau kennen. Man könnte eine Auswahl der ›unklaren Charaktere‹ treffen. Ein billiger Strohhalm.«
Meesters sah Dr. Wolff mit vorgeschobener Unterlippe an. »Denken Sie an die Zeit, die Sie für diese Massenuntersuchung brauchen, Doc!«
»Wenn ein Kassenarzt pro Tag 80 Patienten durchschleust und das mit seinem medizinischen Gewissen verantworten kann, sollte ich das bloße Begucken von rund 400 Menschen auch in kurzer Zeit schaffen.«
»Ein Argument!« Meesters lachte rauh.
»Wann wollen wir starten?«
»Auf der Fahrt von Aden bis Marbat. Wie lange brauchen wir da?«
»Fünf Tage.«
»Das genügt. Ein normaler Kassenarzt-Andrang. Wann legen wir von Aden ab?«
»Heute nacht noch.«
»Also dann ab morgen nachmittag.« Wolff erhob sich. Kapitän Meesters drehte die erkaltete Zigarre zwischen den Zähnen.
»Wie sollen wir die ganze Sache nennen?«
»Aktion ›Gelbe Flagge‹.« Wolff setzte vorsichtig seine Mütze über die Beule. »Nach der gelben Fahne der Seuchenquarantäne. Das gibt allem den abenteuerlichen Hauch, für den die Passagiere ja bezahlt haben.«
»Ein Arzt mit galliger Phantasie!« Meesters schlug die Fäuste gegeneinander. »Schade, daß Dr. Bender nicht hier ist. Er hätte Spaß an seinem jungen, begabten Nachfolger.«
In der Nacht klopfte es an Wolffs Kabinentür. Er war gerade eingeschlafen, schrak hoch, warf seinen Bademantel über und schob den Riegel zurück.
Eve Bertram stand draußen, und hinter dem schützenden Vorhang ihrer Haare sagte sie
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