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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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voller mütterlicher Gefühle ihren Säugling beim Schlafen zu betrachten. Karen huschte derweil weiter zum Schlafzimmer der jungen Eltern und machte Licht.
    Über dem Kopfende des Bettes schwebte Floyd, in pastellenen Blautönen, groß, mächtig und beschützend. Seine ungleichen Schwingen waren erhoben in einer Geste, die gleichzeitig drohend und vergebend wirkte. Er schwebte dort über dem Bett, und Karen blieb fast das Herz stehen.
    Es war das berühmte HalbEngel-Poster.
    Es zeigte Floyd, mit geschlossenen Beinen dastehend, von schräg rechts vorne aufgenommen, nur mit einer dreckigen und zerfetzten Jeans bekleidet, den Kopf leicht gesenkt, sodass die Haare sein Gesicht fast verdeckten, und beide Arme nach oben ausgebreitet. An den rechten Arm angeklemmt seine elektrische, über 30 Jahre alte Les-Paul-Gibson-Gitarre mit der mattblauen Lackierung, den Ahornhals in der Hand, die untere Brettrundung in der Achselhöhle. Der linke Arm war mittels Computermontage in einen großartigen, leuchtend weißen Schwanenflügel verwandelt. Darunter stand in etwas krakeligen weißen Großbuchstaben der volle Name der Band: Mercantile Base Metal Index . Als Floyd Karen vor einigen Monaten zum ersten Mal so ein Poster stolz vor den Augen entrollt hatte, war sie der Meinung gewesen, dass es das schönste Foto war, das sie je gesehen hatte. Daran hatte sich wenig geändert. Die Wirkung war immer noch erstaunlich. Floyd plötzlich zu sehen, so, ganz alleine mit ihm ...
    »Hätt ich dich vorwarnen sollen, wie groß er ist?«, schmunzelte Laurie, die gerade ins Zimmer kam.
    Karen riss sich blinzelnd von dem Anblick los. »Sam duldet das? Ich meine – wenn er ihn doch nicht ausstehen kann ...«
    »Ach. Ich hab ihm gesagt, das Foto hilft mir dabei, beim Sex zu kommen. Also muss er’s wohl oder übel dulden. Und wahrscheinlich ist genau das auch der Grund, warum er Floyd so gerne verprügeln möchte.« Sie lachten beide, zogen über Sam, Floyd und die Männer im Allgemeinen her und suchten Bettwäsche, Laken und einen Pyjama für Karen aus den Schränken. Als sie alles gefunden hatten, ging Laurie voran aus dem Zimmer und die Stiege hinab, um das Sofa im Wohnzimmer als Karens neue Schlafstatt herzurichten. Karen ging bis zur Tür, dann blieb sie stehen und blickte auf das Poster zurück.
    Floyd. Da war etwas an ihm, wie er so dastand, die elektrischen Schwingen gekreuzigt, das es einem schwer machte zu akzeptieren, dass er sich so verändert, verkauft hatte, sich so über den Tisch hatte ziehen lassen von einer Gruppe ausgebuffter Geldhaie. Er hatte schon immer dieses Träumerische gehabt, dieses In-die-Ferne-schweifende, in der ganzen langen Zeit der zehn Monate, die sie sich gekannt hatten und die sie zusammen gewesen waren. Dieser Glaube an Musik, dieses Investieren von Wahrhaftigkeit und Seele in etwas so Unfassbares wie Klang. Aber wer hatte heutzutage schon die Zeit und die Nerven, sich mit Musik wirklich ernsthaft auseinanderzusetzen? Wir leben in Zeiten, in denen unverhüllte Liebe ein tödliches Wagnis geworden ist, in denen man nicht mehr Atem schöpfen kann, ohne husten zu müssen, und in denen die Nachrichten einen jeden Tag mit den allerneuesten Obszönitäten und blutigen Perversionen überfüttern. Welchen Stellenwert hat da der Rock’n’Roll? Ist er nicht nur ein Soundtrack zu unser aller Leben, aus dessen überreich dargebotenem Angebot sich jeder die Bits zusammensucht, denen er etwas für sich zu bedeuten gestattet? Von welchem Interesse kann angesichts des wahren Lebens da draußen selbst die größte Kunst noch sein? Von welcher Bedeutung? Wenn einer eine Pistole hat und der andere eine Gitarre, ist der mit der Pistole doch immer im Vorteil. Selbst unter den Schulkids gibt es heute kaum noch welche ohne Pistolen. Und doch ... und doch träumen alle von ihnen davon, einmal so wie du zu sein, Floyd. Ein übersteuerter Engel, dem es tatsächlich gelungen ist aufzusteigen. Aus all dem Schmutz und den Notwendigkeiten hier unten. Für Momente habe ich deinen Körper in meinem gehabt und habe dich nicht halten können. Zu glühend, zu schwer, zu fremd.
    Dann hast du dich veräußert und bist einer von denen geworden, die ich immer schon gehasst habe.
    Lass dich nicht von ihnen täuschen – auch die, an die du dich verkauft hast, hassen dich, hassen dich jetzt, immer, hassen dich, weil du schöner bist als sie.
    Und so vereinigst du uns alle in unserem Hass und unserer Furcht.
    Der gesenkte Kopf Floyd Timmens hob sich

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