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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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mir auch ruhig ein wenig zur Hand gehen. Das wollen wir doch mal sehen, was Sam senior dagegen haben kann, dass du eine Weile hier auf der Couch übernachtest.«
    Sam senior hatte nichts dagegen. Er kam am späten Nachmittag heim und war eigentlich ziemlich erfreut, Lauries jüngere und attraktivere Schwester wiederzusehen. Sam arbeitete beim Bau eines zwanzigstöckigen Bürogebäudes als so eine Art Planungs- und Umsetzungschef, und dass eine 45jährige Anwältin aus der Upper Class ihn letztes Jahr zwei Monate lang als Sexgespielen benutzt hatte, war das Gediegenste gewesen, was ihm je im Leben passiert war. Nicht nur seine Augen waren genau wie die des Babys, auch der Rest seines Gesichts ließ keinen Zweifel an der Vaterschaft.
    »So«, grinste er, während er das Risotto, das Laurie aus einer Tiefkühlpackung in der Pfanne aufgebraten hatte, auf der Gabel zum Mund balancierte, »hat die kleine Karen das große Rock’n’Roll-Business wieder sausen lassen, hm?«
    »Tja.«
    Ihm fielen noch weitere ähnlich bewegende Fragen ein, auf die man ähnlich antworten konnte, wie zum Beispiel »Hat sich der große Floyd Timmen doch nicht als Märchenprinz entpuppt?« und »Ist Musik also doch nicht ausreichend, um ein Leben draus zu machen?«, bevor er endlich anfing, von der Baustelle zu erzählen, und was dort so alles heute passiert und an unglaublichen Unfähigkeiten seiner Untergebenen vorgefallen war, und die beiden Frauen konnten sich ansehen und kichern wie früher.
    Nach dem Essen saßen sie noch ein wenig zusammen und reichten das Baby herum wie einen quietschenden Football. Als Sam junior aber wieder quengelig wurde, trug Daddy den Kleinen nach oben ins Kinderzimmer und Mommy deckte ihn fürsorglich zu. Dann wurde die Tür geschlossen, damit die Erwachsenen unten im Wohnzimmer noch ein bisschen Musik hören konnten. Sam senior hatte das Gefühl gehabt, dass es eine gute Idee wäre, Ripcage aufzulegen. Also war er aufgestanden und hatte brummend in den CD-Türmen herumgesucht, bis Laurie ihm zur Hand gegangen war und ihm gezeigt hatte, wo die CD steckte, die auf dem Cover einen Supermarkteinkaufswagen zeigte, der bis obenhin vollgepackt war mit Alkoholflaschen, Handfeuerwaffen, Kondomen, Tabletten, Rauschgiftbeuteln und -spritzen, Crackpfeifen und Batterien. Also hörten sie Ripcage , während sie dasaßen und Bier tranken. Beim ersten Song, dem rockigen und eingängigen › Goodbye ‹ , trommelte Sam Senior mit den Fingern ziemlich variantenlos den Takt und wippte beim Reden ein bisschen mit. Als danach die exzessive, elfminütige Rückkopplungsorgie ›Market‹ einsetzte, auf der Floyd und Utah sich um nur zwei Töne herumspielend mit ihren E-Gitarren gegenseitig an die Wand zu blasen trachteten, bis die elektrischen Nachwehen ihrer Töne sich zu einem gigantomanischen Choral aufgeschaukelt hatten, wippte Sam senior nicht mehr, sondern zog stattdessen mit offensichtlich häufig praktizierter Heftigkeit über Politiker, Steuern und das miserable Angebot an qualifizierten Fachkräften her. ›Legless Bird‹ nötigte ihn zu der Äußerung: »Das hier, das hätte’n schöner Song werden können, wenn da nicht dauernd die Gitarre oder was das ist so rauf und runter machen würde. Dadurch geht alles wieder kaputt.« Karen ertappte sich dabei, wie sie bei ›Zeroes‹ versuchte, einen Sinn und ein System hinter den wütend hervorgestoßenen Zahlenketten zu finden. ›Zeroes‹ war sehr rhythmisch, das Zahlenstakkato ließ einen fast an eine lebendige Art von Drumcomputer glauben. Beim Refrain, der sich immer im hämmernden »Six-six-six« entlud, ballte Laurie die Faust und sang mit. »Six-six-six.« Das folgende ›Word Is Soul‹ brachte ein neues Duell zwischen Floyd und Utah, nur dass Utah diesmal an einem samtig klingenden Piano zugange war. Die schöne, rührende Melodie, Inkarnation all dessen, was Karen schon früher an Floyds Musik geliebt hatte, ließ ihren Blick durch den plappernden und lachenden Sam senior hindurchdriften. Überhaupt hörte sie eher auf die Musik als auf das, was geredet wurde. Ripcage war erschienen über einen Monat, nachdem sie von Floyd abgehauen war, ohne Time-Schedule-Verzögerung, ohne ein einziges ›Karry Come Back‹ drauf, und sie hatte außer einem von den genervten Blicken der hinter ihr wartenden Kunden gehetzten Durchscannen in einem großen Plattenladen bisher noch gar keine Gelegenheit gehabt, das Album zu hören. Den sechsten Song, ›Sleep‹, mit seinem

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