HalbEngel
nicht, um zu antworten. Er blieb verschlossen, in sich selbst vertieft.
Karen atmete tief durch. » Nobody’s Floyd «, sagte sie sanft zu dem Bildnis. Ihre Finger fanden den Lichtschalter. Es wurde dunkel.
Der zweite von zwölf Rhythmen
Licht flackert auf,
das milchige Nachlicht eines Kindes.
Der kleine Junge war gut zugedeckt, das Gesicht vom Fieber gerötet, aber die Augen in einem anderen Glanz als nur vom Fieber schimmernd. Daddy las ein Märchen vor.
»... und als der Tag kam, an dem das Mädchen auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte, war das zugleich der letzte Tag, an dem das Mädchen nicht sprechen und lachen durfte, und sie wusste, dass der Zauberer jetzt, wo sie ihr Gelübde eingehalten hatte, ihre sechs in Schwäne verwandelten Brüder aus dem Käfig lassen musste. Die sechs Hemden, die die gute Fee sie zu nähen geheißen hatte, waren fast fertig geworden, nur an dem letzten fehlte noch der linke Ärmel.
Als das Mädchen nun zum Scheiterhaufen geführt wurde, legte sie die Hemden auf ihren Arm, und als sie oben stand und das Feuer eben angezündet werden sollte, schaute sie sich um. Da kamen von fern her sechs Schwäne unter den Wolken dahergezogen, und ihr Herz regte sich vor Freude, denn sie sah, dass die Erlösung nahte. Die Schwäne rauschten zu ihr her und senkten sich herab, sodass sie ihnen die Hemden überwerfen konnte. Kaum wurden sie von dem Feenstoff berührt, da fielen die Schwanenfedern und Schnäbel von ihnen ab, ihre sechs Brüder standen leibhaftig vor ihr und waren frisch und schön. Nur dem jüngsten fehlte der linke Arm, und er hatte dafür einen Schwanenflügel am Rücken. Sie herzten und küssten einander, und das Mädchen ging zu dem jungen König, der ganz bestürzt war.
Sie fing an zu reden und erklärte: »Liebster König, nun darf ich sprechen und Euch offenbaren, dass ich unschuldig bin und fälschlich angeklagt wurde!«
Und sie erzählte ihm von dem Betrug des Zauberers, der die Rösser des Königs entführt hatte, um sie für sich zu behalten. Da wurden die edlen Rösser zur großen Freude des Königs herbeigeholt, und der böse Zauberer wurde zur Strafe auf den Scheiterhaufen gebunden und zu Asche verbrannt.
Der junge König aber nahm das Mädchen zur Frau, und sie und ihre sechs Brüder lebten lange Jahre in Glück und Frieden im Schloss des Königs.«
Mit einem dumpfen und staubigen Poff klappte Daddy das dicke, gelb eingebundene Buch zu und zupfte seinem Jungen noch einmal die Decke unterm Kinn fest. »So, und jetzt wird geschlafen. Wenn du tief und fest schläfst, dann kommt im Traum eine gute Fee zu dir und streift dir auch ein Zauberhemd über, und du wirst wieder ganz gesund.« Der kleine Junge starrte weiterhin ernst auf das dicke gelbe Buch, auch als Daddy aufstand, ihm einen Gutenachtkuss auf die heiße Stirn drückte und das Buch wieder quer auf das Regal mit den anderen Büchern legte.
»Daddy?«
»Ja?«
»Und was ist aus dem Jungen mit dem Schwanenflügel geworden?«
»Was meinst du mit ›was ist aus ihm geworden‹?«
Das Sprechen tat dem Jungen weh, und die Stimme war belegt, aber er versuchte es trotzdem. »Na, er ist doch anders als die anderen. Die anderen sind glücklich und können spielen und auf den Pferden reiten ... aber er ... er kann nicht mehr fliegen ... und im Schloss lachen sie alle über ihn oder sagen Krüppel zu ihm wie zu Dickie Ebbings.«
»Hm.« Daddy war schon auf dem Weg zur Tür gewesen, aber jetzt war er stehen geblieben und dachte nach. »Ich denke nicht, dass die Menschen im Schloss über den Jungen mit dem Schwanenflügel lachen werden. Ein Schwanenflügel ist ja nichts Hässliches, im Gegenteil. Ich glaube eher, dass sie ihn für etwas Besonderes halten werden. Sie werden ihm ein besonders schönes Zimmer geben, irgendwo in einem ruhigeren Seitenflügel des Schlosses, und sein Zimmer so einrichten, dass er darin mit einer Hand alles bedienen kann. Mehrere Diener und Dienerinnen werden ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Und jeden Nachmittag zwischen vier und acht werden alle möglichen Bewohner des Schlosses, die Mägde und Köchinnen, die Kartenzeichner und Bücherverwalter, die Stallknechte und Brunnenschöpfer, die Grafen und Barone, Wächter und Soldaten, Hofdamen und Prinzessinnen Schlange stehen, um eine wenn auch nur klitzekleine Audienz beim Jungen mit dem Schwanenflügel zu erhaschen, weil sie wissen, dass er etwas Besonderes ist, und weil sie deshalb seinen Rat und sein Urteil
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