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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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titanische Wogen klatschen über- und ineinander, stöhnend brechen Urwaldriesen um, ein Bär blökt heiser, ein Wildesel fällt ein.
    Einer erfindet das Schwarzpulver. Von jetzt an misst sich der jeweils größte Lärm der Welt an seiner Zerstörungskraft. Musketen sind schon ganz schön laut, Kanonen noch ein Gutteil mehr. Bald detonieren Granaten, pfeifen Bomben durch die Luft, gehen Raketen auf und nieder.
    Dann der Zenit: Hiroshima. Ein wisperndes Knistern jenseits jeglicher Akustik, das Schatten einbrennt in Reispapier und Holz.
    Jenseits des Zenits: lautlos die Neutronenbombe.
    Lärm fällt der Kunst anheim, der Kunst und den Maschinen.
    Als Orchestrierung ungeahnter Klangkaskaden ist die industrielle Revolution vorübergetobt und hat fast alle Menschen taub gemacht. Jetzt erheben sich Neutöner aus den Trümmern, werden Musikinstrumente an Stromkreise angeschlossen. Wechselgesang sich elektrokutierender Barden. Unisono megaphono .
    Am Anfang der Gegenwart ist alles schon gehört worden, ist überall Lärm, macht jedermann Krach. Es ist ein überkochender Hexenkessel, angeheizt durch Selbstüberschätzung und Wut.
    Und dennoch – seltsam genug: Die Welt wartet auf einen neuen Ton, eine ungekannte Melodie, einen noch nie dagewesenen Klang, Harmonik jenseits.
    Die Welt wartet.

Der vierte von zwölf Rhythmen
     
    »Genau darauf hat die Welt gewartet«, meinte Mel Sletvik lachend.
     
     
    Er stand zusammen mit Fred The Pope Christie vor der leicht getönten Scheibe zum Aufnahmeraum III des Overripe -Studios. Dahinter war unter einem Wasserfall von gespiegelten Leuchtanzeigen verschwommen eine junge Band zu sehen, drei Männer und ein Mädchen, die mit wilder Extravaganz an einem psychedelisch zerfransten Blues-Sound werkelten. Sletvik und The Pope hörten zu. Es war der erste Aufnahmetag der Band.
    »Gib’s zu, darauf kannst du nur neidisch sein mit deinem Haufen Amateure nebenan«, lachte Sletvik wieder. Er war ganz ausgesprochen guter Laune heute.
    The Pope nickte. Seine Augen waren hinter der fast blindenschwarzen Sonnenbrille, die er nie absetzte, nicht zu sehen, aber Sletvik hätte gewettet, dass sie leuchteten. »Ich meine«, ließ Sletvik nicht locker, »sehen wir der Sache doch mal ins Gesicht. Lizard Soul sind das Zugpferd meines Labels, sie sind nicht schlecht, sie verkörpern für viele Kids da draußen den wilden, langmähnigen Traum von schweren Maschinen auf einem sommerlichen Freeway und einer Pussy in Leder auf dem Sozius. Aber die hier, die sind noch nicht besetzt. Die können alles werden, alles verkörpern.«
    »Sind sie auch so stinkend faul wie die Lizards ?«
    Sletvik lachte mit weit aufgerissenem Mund. »Mann, Pope – die Jungs hier musst du nachts in ihren Betten festschnallen, damit sie nicht hierherkommen und weitermachen.«
    »Du hast nämlich völlig recht, mich kotzen die Lizards langsam an mit ihrer Großspurigkeit. Ich muss jeden von ihnen förmlich aus einem Puff hierherprügeln, damit er mir ’ne 60-Sekunden-Spur bespielt, und die ganze Zeit über hab ich das miese Gefühl, dass ich in der Stadt hier sieben oder acht andere Musiker finden könnte, die mir die Spur besser bespielen würden – und die ich nicht mal dazu überreden müsste, sondern die mir für den Job dankbar wären, weil sie nämlich Hunger haben.«
    »Sieh dir die an. Hör dir diesen Sänger an. Der Song heißt ›Ten Candles‹. Schon mal so ’nen Rhythmus gehört?«
    »Der Drummer kommt mir irgendwie bekannt vor.«
    »Denning. War mit Wayne Shorter in Paris.«
    »Jazz.«
    »Yeah.«
    »Das ist ziemlich weird. Hat er mal mit Cherry gespielt, bei irgendso einem Multikulti-Fela-Kuti-Bogus?«
    »Def.«
    »Wir haben hier ’ne post-grungige Experimentalrockband mit einem Jazz-Backbone? Mel, du bist krank.«
    Sletvik lachte wieder, schüttelte sich förmlich in seiner Jovialität. Dann schaltete er auf Speak. »Floyd? Floyd, das ist alles schon ziemlich gut so. Legt doch jetzt mal zur Abwechslung einen ›Legless Bird‹ dazwischen, sonst fahrt ihr euch zu sehr fest.«
    Die Stimme des Sängers kam blechern aus den Lautsprechern. »Aber ... Mel, wir sind gerade ziemlich gut drin ... ich dachte, wir machen jetzt den Take.«
    »Ihr macht, was Onkel Mel euch sagt, Leute, vertraut mir, es ist zu eurem Besten. Ihr müsst rein- und rausspringen können aus so einer Vibe, und von außen her immer wieder mitten rein, erst dann fängt der Song an, außerhalb eurer Köpfe richtig zu stehen. Kommt jetzt, gebt mir den

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