Halbgeist: Roman
Mauerfirst.
Zum Rand kriechen und runterschauen.
Ich sah den Rücken meines Vaafirs. Er lag nun bäuchlings am Boden, zu schwer verletzt, sich noch zu rühren. Seine Tunika, im sauberen Zustand hell, glitzerte schwarz in dem Mondschein, der durch die offenen Fenster drang. Sein Rücken bildete eine Landschaft voller offener Wunden und verblüffte mich, weil er bewies, wie beharrlich sich jemand an das Leben klammerte, den umzubringen jede Mühe lohnte. Das, was er zwischen zwei seiner drei mittleren Finger und den beiden Daumen hielt, war ein Messer. Er hustete Blut und brachte ein Wort hervor: »Aaaaandreaaaa ...«
Zufällig habe ich aus späteren Untersuchungen jener Ereignisse erfahren, dass der Wahn, der Menschen und Bocaier auf dieser Insel überwältigt hatte, sich in diesem Moment allmählich legte. Die Leute waren dabei, wieder auf eine rationellere Weise zu handeln. Einige traumatisierte Überlebende boten bereits in diesem Augenblick jenen, die sie Minuten zuvor hatten ermorden wollen, medizinische Hilfe an.
Ich weiß nicht, warum mein Vaafir gerade jetzt meinen Namen rief. Vielleicht hatte er mich hervorlocken wollen, um mich umzubringen. Vielleicht hatte er mich auch nur wissen lassen wollen, dass alles in Ordnung sei, dass er keine Gefahr mehr für mich sei.
Ich werde es nie erfahren.
So wie ich nie herausfinden würde, wie viel von dem, was ich als Nächstes tat, auf dem Wahnsinn beruhte, der von mir Besitz ergriffen hatte, und wie viel davon auf meiner eigenen Problemlösungsmanie, meinem Drang, ein Puzzle seiner natürlichen Lösung näher zu bringen.
Ich richtete mich auf und stand am Rand der Mauer. Den Kreis hielt ich mit der spitzen Seite nach unten, zielte auf die schmale Stelle an seinem Rücken - und sprang, die Beine um meine Waffe gewickelt, um dem Stoß mehr Schwung zu verleihen, als es mit der bloßen Kraft eines Kindes möglich gewesen wäre.
Der Aufprall klang wie ein knallender Sektkorken.
Heißes Blut schoss unter mir hervor, benetzte meine Beine, meine Brust und mein Gesicht, zeichnete mich mit dem ersten Beweis meiner eigenen Monstrosität.
Ich rollte mich weg, sprang auf die Beine für den Fall, dass er dem Tod noch nicht nahe genug war.
Wie es der Zufall wollte, hatte ich ihm den Kres tief in den Rücken getrieben und dabei eine seiner drei Lungen punktiert, ohne die Waffe jedoch ganz durch seinen Leib zu bohren. Ich hatte seine Wirbelsäule verfehlt, weshalb er noch genug Kraft hatte, um sich zu schlagen und zu versuchen, sich umzudrehen, ein Versuch, der nur misslingen konnte, weil sich der Rest des Kres an der niedrigen Wand neben ihm verkeilte und dafür sorgte, dass jegliche Bewegung in diese Richtung die Klinge nur noch tiefer in seinen Körper trieb.
Er streckte mir beide Arme entgegen, die Finger blutig, die Augen beschwörend.
Mit dem Mund voller Blut versuchte er erneut, meinen Namen auszusprechen, und verborgen unter gurgelnden Lauten war er doch immer noch herauszuhören. Ich vernahm Zuneigung, Trauer und tiefe, unendliche Verwirrung.
Aber was mich wirklich bis ins Innerste traf, waren diese Augen.
In meinen Albträumen sehe ich diese wunderschönen, annähernd und doch nicht ganz menschlichen Augen mit den sonderbaren viereckigen Pupillen und einer Iris, die das Weiß beinahe vollständig bedeckte. Augen wie jene gehörten zu den Dingen, die ich an meinen Bocaier Freunden und meiner Bocaier Familie am meisten geliebt hatte. Sie waren so viel farbiger, so viel ausdrucksvoller als ihre menschlichen Gegenstücke. Sie erinnerten mehr an Juwelen als an Augen, und die Augen meines Vaafirs waren mir immer so vorgekommen, als wären sie noch größer, blickten noch warmherziger, wären mit noch mehr Magie angefüllt als die der meisten anderen.
Sein Blick trifft mich im Nachhinein so sehr, weil ich glaube, dass er in diesen letzten Minuten wieder er selbst geworden war. Ich glaube, er versuchte mir zu sagen, dass es ihm leidtat.
Aber in diesem Moment sah ich nichts außer Schönheit.
Und es war nicht allein diese monströse Macht, die von mir und allen, die ich liebte, Besitz ergriffen hatte, die mich mit Schmutz befleckt hatte ... Schmutz, den ich mein Leben lang nicht mehr loswerden würde, die mich zu einer Kindheit in der Obhut von Leuten verdammt hatte, die in mir ein Rätsel sahen, das gelöst werden wollte, der Obhut eines anderen, der in mir ein Spielzeug sah, dessen er sich bedienen konnte, die mir als Erwachsene keine andere Perspektive als ein
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