Halbgeist: Roman
gemeinsame Stimme. »Als eine magische Hand aus den Wolken auftaucht und ihr die erste Last vom Rücken nimmt, ihr die Freiheit gibt, sich aufzurichten, um zu tun, was getan werden muss, um das Leben zu leben, das sie leben will, sollte sie glücklich sein. Doch ihre erste Reaktion ist Zorn.«
Die nächsten Worte erklangen wie ein geisterhaftes Echo meines eigenen New Londoner Akzents. »›Wer bist du‹, fragt sie die Wolken, ›dass du einfach nimmst, was ich schon so lange trage? Das ist nicht richtig! Dieser Stein gehörte mir!‹«
»Nach all der Zeit ist sie dem Glauben anheimgefallen, es wäre eine Art Schatz ...« Skye sprach allein.
»Anstelle dessen, was es wirklich ist«, schloss Oscin, »nämlich eine lähmende Bürde.«
Ich wollte mich aus ihrer gemeinsamen Aufmerksamkeit freikämpfen, wollte sie dafür verfluchten, dass sie dachten, sie könnten mich so leicht verstehen.
Aber irgendwie rührte ich mich nicht.
Skye zeichnete mit den Fingerspitzen Kreise in mein Haar. »Es ist, wie ich gestern sagte. Die Individuen Oscin und Skye waren einmal sehr wütende Leute. Jeder von ihnen trug seine eigene Last, hütete seine eigenen Geheimnisse, die ebenso schrecklich gewesen sein mögen wie jedes der Ihren: Geheimnisse, die auch das Blut an ihren Händen einschlossen. Weder Oscin noch Skye glaubten, sie besäßen genug Kraft, um noch irgendetwas anderes zu tragen. Sie wollten ihre Bürden sogar horten, weil sie fürchteten, derartige Dinge zu teilen bedeute, alles aufzugeben.« Oscins Stimme gesellte sich zu Skyes und bildete eine neue Kraft, die das Zimmer bis zur Decke ausfüllte. »Aber es waren Bürden, keine Schätze. Sie konnten geteilt werden. Und wenn dieser Junge und dieses Mädchen ein wenig Hilfe brauchten, dann war diese Hilfe nicht falsch. Sie war ein Geschenk.«
Die KIquellen hatten von drei Geschenken gesprochen: eines, das sie mir bereits gemacht hatten, eines, das im Prozess der Übergabe war, und eines, von dem sie hofften, sie könnten es mir nach Abschluss dieser Sache geben. Ich fragte mich, was ich gerade erlebte.
Wie dem auch sei, es fiel mir immer schwerer, so zu tun, als misstraute ich dem Geschehen. Die Wärme, die von meiner Lendenwirbelsäule aufstieg, fühlte sich an, als gehöre sie mir, auch wenn sie von woanders stammte.
Entschlossen, das Gefühl von mir zu weisen, es mit allen möglichen Mitteln zu vertreiben, packte ich Skyes Handgelenk und bohrte meine Fingerspitzen mit aller Kraft in ihre Sehnen, um möglichst viel Schmerz auszulösen. »Als ich acht Jahre alt war, habe ich meinen Bocaier Vater ermordet. Meinen Vaafir. Ich habe ihn von hinten erstochen und es genossen. Ich habe ihm die Augen aus den Höhlen geschaufelt, während er noch imstande war, den Schmerz zu spüren. Als das Dip Corps mich fand, saß ich auf dem Boden und spielte mit ihnen, und meine Hände waren mit seinem Blut bedeckt.«
Skye legte ihre freie Hand auf meinen Handrücken, und schon die bloße Berührung reichte, um meinen Griff um ihr Handgelenk zu lockern. »Das weiß ich, Andrea. Es ist, wie ich sagte: Ich habe mir Ihren Werdegang angesehen. Und Sie waren nur ein kleines Kind in einer friedlichen Gemeinde, die plötzlich wahnsinnig geworden ist.«
»Eine kontaminierte Gemeinde«, sagte Oscin. »Kontaminiert durch etwas, worüber Sie keinerlei Kontrolle hatten.«
»Aber das ist es ja. Ich bin immer noch kontaminiert. Darum bezeichnet man mich nach wie vor als Kriegsverbrecherin. Darum hat man mich weggesperrt. Darum haben sie mich zu ihrem Eigentum gemacht. Darum sagen sie immer noch, dass ich nie Vergebung erfahren werde.«
Zwei Gesichter beherrschten mein Blickfeld, seines und ihres.
»Politik.«
Verdammt, ich würde es nicht zulassen. Es war eine Sache, zu weinen, wenn ich gerade aus dem Interschlaf zurück war oder allein in meinem Quartier in New London, aber es war eine ganz andere Sache, zu weinen, wenn andere es sehen konnten. Andere Leute gehörten nicht zu den Dingen, bei denen ich Trost suchen konnte. Sie waren Teil jenes Puzzles, das zu lösen ich am Leben gelassen wurde.
Aber ich hatte nicht genug Stimme, sie aufzuhalten. »Ich bin ein Monster.«
Oscin rückte noch näher heran, während Skye mich festhielt.
»Du bist schön«, sagten beide zusammen.
Erst nacheinander, dann zugleich küssten sie mich.
Zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, fühlte ich, dass ich nahe daran war, die Bürde, die ich mein ganzes Leben lang getragen hatte, abzulegen. Nichts davon
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