Halbgeist: Roman
menschlicher Wesen mit ihren ständigen störenden Fragen beeinträchtigte ihn lediglich in seinem Leben. Wäre gewöhnlicher Anstand eine Option gewesen, so hätte ich ihn jetzt wohl einfach in Ruhe lassen müssen. Aber diese Option stand mir nicht zur Verfügung. Es gab immer noch ein paar Dinge, die ich wissen musste.
Vorsichtig bewegte ich Arme und Beine innerhalb des Netzwerks aus Wurzeln und Haltetauen, das mich so lange Zeit dort oben gehalten hatte. Sie prickelten furchtbar dank des gestörten Blutflusses, aber ich wäre imstande, mich schnell zu bewegen, sollte es notwendig werden.
»Ich bin froh, dass wir Freunde sind«, sagte ich, »weil ich deine Hilfe brauche.«
Erneutes Grollen. »Was wünschst du, dass ich für dich tue?«
»Ich brauche deine Hilfe, um am Leben zu bleiben.«
Ein tiefes Grollen ertönte von den anderen Brachiatoren um uns herum. Ich wusste nicht, wie viele Angehörige des Stammes meine Worte gehört hatten, aber diejenigen, die sie aufgeschnappt hatten, waren schockiert, womöglich wütend, so wie Gäste bei einer Zusammenkunft von Menschen, die sich geschmacklose Bemerkungen über die Fremden in deren Mitte anhören mussten.
Freund der Halbgeister war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. »Du bist ein Halbgeist. Du besitzt so viel Leben, wie du nur bekommen kannst.«
»Das ist mir egal. Ich bin es müde, ein Geist zu sein. Ich bin es müde, stets in das Land der Toten zurückkehren zu müssen. Ich brauche mehr. Ich brauche Leben, wie ihr Leben kennt.«
Bildete ich es mir nur ein, oder zitterte Freund plötzlich, sei es vor Furcht, vor Zorn, vor Frust oder auch vor Abscheu? Es war nicht von Bedeutung. Ich brauchte jedenfalls keine Fantasie, um die Veränderung in seinem Timbre zu hören: eine Tiefe, eine Heiserkeit, die vorher nicht da gewesen war. »Zu viel Leben ist nicht gesund für Geister. Davon haben wir gehört. Der andere Geist ...«
»Welcher?«, fragte ich.
»Der, von dem wir gehört haben. Der, der das Leben umarmt hat.«
»Der, der daran gestorben ist«, sagte ich.
»Ja. Sie hat uns gelehrt, dass Leben für Geister nicht gut ist. Dass es sie zu schnell verzehrt.«
»Das ist ein kleiner Preis für das Leben.«
Lange Pause. Die Luft veränderte sich, wies plötzlich die Eigenschaften auf, die typisch für die letzten Sekunden vor einem Sturm waren.
Freund der Halbgeister verlegte sich aufs Betteln. »Bitte, Andrea Cort. Fordere das nicht von mir. Wir wollen dich nicht zu schnell verbrauchen.«
Meine Kehle wurde trocken. Ich schluckte und sagte: »Ich weiß, was ich will. Gib mir Leben.«
Die ganze Welt um mich herum hielt plötzlich den Atem an. Das sanfte Rascheln der Brachiatoren, die ihre Position innerhalb der Ranken veränderten, der seufzende oder grunzende Atem, das Murmeln der Worte der Brachiatoren und all die anderen unterschwelligen Erinnerungen an das Leben waren verstummt, verschwunden, und an ihren Platz war die rasende Anspannung von Kreaturen getreten, die aufgefordert waren, eine Gräueltat zu begehen.
Dann setzte sich Freund der Halbgeister in Bewegung.
21
STURZ
Freund der Halbgeister zog ein Glied aus dem Überwuchs und hielt es vor sich wie eine Gabe, ehe er es wieder ausstreckte und sich näher an mir einen neuen Halt suchte.
Dann zog er das nächste Glied aus dem Überwuchs, zögerte wieder eine Weile und griff sich den nächsten Ast.
Das Gleiche tat er anschließend mit den hinteren Gliedern, bewegte jedes für sich allein und jedes Mal in der gleichen Geschwindigkeit, wie ein Gletscher fließt, begleitet von einem widerstrebenden Schluckauf innerhalb einer scheinbar unaufhaltsamen Vorwärtsbewegung.
Seine Geschwindigkeit nahmen seine Mitbrachiatoren zum Vorbild. Sie alle kamen zugleich auf mich zu.
Einige von ihnen lösten bereits unterwegs die ausgefallenen Klauen, die in ihrem Fell hingen.
Ich schloss die Augen, stellte mir vor, wie sehr es schmerzen musste, würden diese Klauen durch meine Hand- und Fußgelenke getrieben werden, versuchte, mir selbst einzureden, dass dies in der Tat mein Schicksal sei, kämpfte darum, Furcht vor all den Qualen, die über mich hereinbrechen würden, heraufzubeschwören.
Ich zählte bis dreißig, kam zum Ende und, Gefahr ist mein zweiter Vorname, fing wieder bei null an.
Eins, zwei ...
Ich hörte sie immer noch kommen.
Fünfzehn, sechzehn ...
Das Grollen, das mit ihrer Annäherung einherging, reichte, dass ich am ganzen Leib erbebte.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig ...
Jeden Moment
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