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Halbgeist: Roman

Halbgeist: Roman

Titel: Halbgeist: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam-Troy Castro
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rechnete ich damit, dass sich eine pelzige Hand um meinen Unterarm schloss.
    Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig ...
    Ich konnte sie um mich herum fühlen. Schon wärmte ihr heißer Atem meine Haut.
    Dreißig.
    Ich schlug die Augen auf.
    Sie hatten sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit genähert, ein Umstand, der auf ihr jeweiliges Alter und ihre physische Kondition zurückging. Ein stämmiger, stark vernarbter Vertreter der Spezies mit grauen Streifen im Pelz hatte den etwas langsameren Freund der Halbgeister irgendwann überholt und mochte mich Minuten vor seinem Bruder erreichen.
    Es gab keinen Zweifel daran, was sie mir anzutun beabsichtigten.
    Bekamen sie die Gelegenheit dazu, würden sie sich rund um mich herum aufbauen, würden meine Arme und Beine mit der natürlichen Kraft von Kreaturen fixieren, die sich pausenlos irgendwo festhalten mussten. Einer oder zwei würden sich jeweils einen Arm schnappen, einer oder zwei jeweils ein Bein. Sie würden meine kläglichen menschlichen Glieder fixieren, nicht aus Bosheit, sondern aufgrund des schlichten animalischen Wissens, das ihnen sagte, dass der Übergang zum Leben großen Schmerz und bei schwächeren Kreaturen auch schlimme Krämpfe auslösen konnte. Womöglich würden sie sogar einige tröstende Worte verlieren.
    Und dann würden sie die abgelösten Klauen durch meine Hand- und Fußgelenke treiben.
    Sie wussten, dass das mein Tod sein könnte. Immerhin hatte es Warmuth getötet. Aber sie würden darin trotz allem eine Gefälligkeit mir gegenüber sehen.
    Die Brachiatoren waren immer noch mehrere Minuten entfernt. Ihre Annäherung war so langwierig wie unaufhaltsam.
    Ich sprach in höchst naivem, kläglichem Tonfall: »Was tut ihr?«
    »Wir geben dir, was du verlangt hast«, sagte Freund der Halbgeister.
    Hatte Cynthia sich umgesehen und in einem Volksstamm, der von allen Seiten auf sie eindrang, plötzlich etwas Bedrohliches erkannt? Hatte sie sich gefragt, ob sie das Falsche gesagt, ob sie sie in irgendeiner Weise gekränkt hatte? Oder war sie über die Maßen stolz gewesen, dass sie in einem Punkt derart erfolgreich gewesen war, in dem all ihre spottenden, unfreundlichen Kollegen versagt hatten?
    Der ergraute Brachiator hatte mich beinahe erreicht. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass der Katalog seiner mimischen Ausdrucksfähigkeiten das gleiche Spektrum an Möglichkeiten umfasste wie der menschlicher Äquivalente, aber dieses schiefe Lächeln erschien mir schlimmstenfalls freundlich, mitfühlend, ja, sogar gottgefällig.
    Die Klaue, mit der er zum Schlag ausholte, war vom Alter gezeichnet, aufgesprungen und befleckt mit dem Blut von Brachiatoren, die in der Schlacht gefallen waren.
    Bliebe ich hier, so würde sie auch mein Blut kosten.
    Also ließ ich all meine Haltetaue bis auf eines los und stürzte, Arme und Beine weit ausgebreitet, den Wolken entgegen.
    Ich keuchte, fühlte, wie das Entsetzen und die Panik meine Adern mit flüssigem Eis füllten, deckte mich selbst mit tausend zornigen Schimpfworten ein, fragte mich, ob die Kreuzigung durch die Brachiatoren wirklich eine so schlechte Alternative zu diesem Sturz gewesen wäre, schalt mich wütend, wie dumm ich doch sei, und schrie.
    Dann keuchte ich erneut, als ein Ruck durch meinen Körper ging, mein Rücken versteifte und ich zurückgerissen wurde, zurück in Richtung Überwuchs, und die Brachiatoren sich um meine Heimstatt der vergangenen Nacht sammelten.
    Die Sicherungsleine, die an dem Gurtsystem an meinem Brustkorb befestigt war, war viel zu elastisch. Ich würde zu weit hochgerissen werden und den Brachiatoren Gelegenheit geben, mich zu packen, während ich zurückfederte.
    Eine Vorstellung, zu albern, sich davor zu ängstigen. Keine Leine konnte so elastisch sein. Und die Brachiatoren konnten nicht sehen, was mein Körper tat. Ihr Blick konzentrierte sich auf den Überwuchs, nicht auf irgendetwas, das unter ihnen geschah.
    Dennoch kam ich ihren versammelten Kehrseiten nahe genug, ihre jeweilige Geschichte bequem an den Narben ablesen zu können, die sich kreuz und quer durch ihr Fell zogen.
    Einen Moment hörte ich ein Donnern.
    Dann stürzte ich wieder, doch dieses Mal war der Drang zu schreien nicht gar so überwältigend.
    Als das Tau sich spannte, kreiselte ich um den tiefsten erreichbaren Punkt. Wolkendecke und Überwuchs waren nur mehr eine Art kaleidoskopisches Durcheinander.
    Mir war nicht aufgefallen, dass ich die Hände zu Fäusten geballt hatte, aber als ich sie nun wieder

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