Halbmondnacht
der Machtaura, die sie umgab. Je mächtiger ein Übernatürlicher ist, desto mehr Energie umflort ihn, was aus der Nähe wie ein Kribbeln auf der Haut spürbar wird. Rourkes Aura war die stärkste, die ich je wahrgenommen hatte; ihn in meiner Nähe zu haben, war ein absolut köstliches Gefühl, anregend wie Lustschauer. Die Energie der Vampire hingegen hatte etwas Angespanntes; sie war sehr konzentriert. Sie sollte einschüchternd wirken, und das tat sie auch. Wenn ein Alter von fünfhundert Jahren als jung galt, wie alt musste man als Vampir werden, um Sonnenlicht aushalten zu können?
Anstatt meine Frage laut auszusprechen, entgegnete ich: »Um das Tempo zu halten, fahren wir auch tagsüber. Ihr könnt uns einholen, sobald ihr dann wieder wach seid.«
»Die Bergkette, nach der ihr Ausschau halten müsst, liegt in einiger Entfernung nordwestlich von hier.« Naomi tat ein paar Schritte auf mich zu. »Sie säumt einen großen See, der fünfmal so groß ist wie alle anderen in der Umgebung. Das Areal, in dem die Göttin ihre Zuflucht hat, ist sehr abgeschieden. Die felsigen Pässe dorthin sind für Menschen unbezwingbar. Ihr folgt mit eurem Wagen der Schotterpiste bis zu ihrem Ende am Westufer des Sees. Dort wartet ihr den Einbruch der Nacht ab. Sind wir erst erwacht, dürfte es nicht lange dauern, bis wir euch aufgespürt haben. Wagt euch nicht weiter vor als bis zum Ende der Piste, wenn euch euer Leben lieb ist. Der Weg hinein in die Zuflucht der Göttin ist mit tödlichen Fallen gespickt.« Augenscheinlich war Naomi die Fährtenleserin, während ihr Bruder die Zielperson erspürte. »Selene hat sich gut gegen Unheil jeder Art abgesichert.«
»Ihr habt den Zugang zu ihrem Versteck bereits ausgekundschaftet?«, fragte ich überrascht. Ich hatte angenommen, die beiden hätten den gestrigen Tag beziehungsweise die Nacht damit zugebracht, Selenes Spur aufzunehmen. Ansonsten hätten sie uns ja keine Angaben darüber machen können, in welche Richtung wir hatten fahren müssen. Aber dass sie Selenes Zuflucht so schnell und präzise hatten lokalisieren können, war mehr, als ich mir erhofft hatte. »Tja, ich nehme an, man kann im Flug ein erheblich größeres Gelände absuchen.«
Fliegen zu können war definitiv eine Fähigkeit, die uns abging. Aber uns von den Vampiren dort hinfliegen zu lassen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Wir waren zu viert, sie nur zu zweit; außerdem hatten wir unsere ganze Ausrüstung dabei. Aber selbst wenn alles andere gepasst hätte, sie auch zu viert gewesen wären und wir keine Ausrüstung gebraucht hätten, wäre eines immer noch ein unüberwindliches Hindernis gewesen: Nichts auf der Welt hätte einen Wolf dazu gebracht, sich freiwillig von einem Vampir durch die Lüfte tragen zu lassen. Auch ich würde dieses Risiko nicht eingehen wollen, obwohl mir Naomi, zumindest in einem gewissen Maße, vertrauenswürdig erschien. Zwischen unseren Gemeinden gab es zu viel gegenseitige Ablehnung. Gut, die Vampirgeschwister würden uns nicht eigenhändig umbringen. Schließlich hatte ihre Königin das mit einem Schwur besiegelt. Aber es gab genügend Möglichkeiten, dieses Ziel auf Umwegen zu erreichen, ohne eidbrüchig zu werden. Wir könnten etwa einen Unfall erleiden, ohne dass die Vampire gegen die Bedingungen des Schwurs verstoßen müssten. Uns fallen zu lassen, damit wir an der nächsten felsigen Bergflanke zerschmetterten, warder schnellste und leichteste Weg, uns für immer loszuwerden. Eamon, so vermutete ich jedenfalls, würde das sicher viel Spaß machen. Sie könnten uns auch bringen, wohin es ihnen, aber nicht uns beliebte. Sich bei der Fortbewegung auf die Vampire zu verlassen, war also zu riskant. Uns wie gehabt am Boden fortzubewegen war unsere einzige Chance, unser Überleben zu sichern.
Naomi entgegnete: »Wir sind nicht bis zum Eingang ihrer Höhle vorgestoßen, sondern haben uns nur in der Umgebung umgesehen. Eamon kann viele Formen von Magie aufspüren, und frische Spuren von Selene gab es überall in den Bergen. Aber obwohl Eamon zu spüren vermag, dass Magie in der gesamten Umgebung präsent ist, wissen wir erst genau, womit wir es zu tun haben, wenn wir dort ankommen. Zweifellos rechnet Selene mit deinem Eintreffen, doch bis dahin dürfte sie sich ausgiebig mit ihrem Gefangenen beschäftigen. Du wirst das Tüpfelchen auf dem i sein, wenn sie seinem Leben ein Ende setzt.« Mein Wölfin knurrte und schickte mir das Bild einer blutüberströmten Selene. Genau!
»Es gibt noch
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