Halbmondnacht
setzten, landete eine einzelne Gestalt etwa drei Meter vor uns. Das übliche Annäherungsgeräusch klang jetzt, aus dieser kurzen Entfernung, als würde eine schwere Fallböe Bäume durchschütteln.
»Schon eine coole Sache, das Fliegen«, meinte Danny vergnügt hinter mir. »Bringt dem Vampirismus, was mich betrifft, so einiges an Pluspunkten ein.«
Naomi hielt Ray umschlungen. Er hing schlaff in ihren vorseinem Bauch verschränkten Arme als hätte sie bei ihm wegen Atemnot das Heimlich-Manöver durchgeführt und er wäre trotzdem erstickt. Ich machte ein paar Schritte vorwärts, und Naomi ließ Ray ohne Ankündigung fallen, einfach so. Er schlug lang auf den Asphalt hin, offenkundig bewusstlos. »Ihn das Fürchten zu lehren scheint gewirkt zu haben«, meinte ich. Ich wusste, dass er am Leben war, denn ich konnte ihn atmen hören. Nicht, dass ich erwartet hatte, sie würde ihn umbringen. Ebenso wenig aber hatte ich erwartet, so gut mit Vampiren zurechtzukommen. Gut, okay, Eamon war schwierig, Naomi dagegen wirkte beinahe nett.
» Alors , Menschen sind schwach.« Sie zuckte mit den Schultern. Tief in ihren Augen blitzte es silbern auf, ein Funken, der in die Dunkelheit floh. »Ich habe dafür gesorgt, dass er mitbekommt, was passiert. Als Zugabe habe ich ihn fallen lassen.« Als ich überrascht reagierte, lächelte sie. »Aber nur für einen winzigen Augenblick. In Menschenzeit waren das höchstens ein paar Sekunden im freien Fall. Als ich ihn wieder auffing, war er schon in Ohnmacht gefallen.« Ungerührt blickte sie auf den reglosen Ray hinunter. »Ich verstehe wirklich nicht, warum du dich so sehr für einen Menschen wie diesen hier einsetzt. Aber immerhin ist er länger bei Bewusstsein geblieben als die meisten anderen.« Ein leichter Anflug von Respekt machte sich in ihrem mit einem singenden französischen Akzent gefärbten Tonfall bemerkbar.
»In gewisser Weise ist Ray so etwas wie ein Versuchskaninchen der besonderen Art.« Ich trat auf ihn zu. »Vampire mögen dem menschlichen Leben ja vielleicht mit mehr Geringschätzung begegnen. Aber mein großer Plan sieht vor, es, wenn irgend möglich, zu schützen.« Um mir nicht selbst etwas vorzulügen, musste ich mir eingestehen, dass Rays Leben zu retten ein Drang war, den ich tief im Herzen verspürte und der sich nicht so leicht bezähmen ließ. Kontrolle hatte ich darüber nicht. Ganz kurz schwirrte mir die Prophezeiung durch den Kopf. Aber ich hatte nicht dieZeit, dem nachzuspüren und mir meiner Gefühle dahingehend klar zu werden.
»Menschen haben keine große Bedeutung für uns.« Sie zog ihre schmalen Schultern hoch und ließ sie wieder fallen; ihr langes kastanienbraunes Haar bewegte sich mit elegantem Schwung in der Nachtluft. Die Geste und der Schwung ihrer Haarpracht ließen sie eine Winzigkeit normaler und weniger übernatürlich gruselig wirken. »Wir haben selten das Bedürfnis oder die Not, sie zu töten. Wenn wir nicht wollen, bemerken sie nicht einmal, dass wir da sind. Doch wenn gelegentlich ein Menschenleben ausgelöscht wird, was soll’s.«
Unter anderen Umständen hätte ich mich vielleicht versucht gefühlt, Naomi daran zu erinnern, dass sie auch einmal ein Mensch gewesen war. Aber dies war nicht der passende Zeitpunkt. Außerdem war mir auch klar, dass höchstwahrscheinlich schon zu viele Jahre ins Land gegangen waren, als dass sie diesem Umstand noch hätte Bedeutung zumessen können. Außerdem hatte ich keine Ahnung, was ich wohl Menschen gegenüber fühlte, wäre ich erst so alt wie Naomi und das Ganze für mich nur noch von hypothetischem Interesse. Vielleicht hätte auch ich dann längst vergessen, wie es gewesen war, ein Mensch zu sein, und sie wären wie bei der Vampirin kaum mehr als ein blinkender Punkt auf meinem Radar.
Ray stöhnte.
»Tja«, erwiderte ich schließlich, »das Leben dieses Exemplars jedenfalls ist momentan noch nicht zu haben.« Probehalber tippte ich ihm mit einer Stiefelspitze an den Oberschenkel. »Heda, Ray, es ist Zeit aufzuwachen.« Ich wiederholte das mehrfach und rüttelte ihn schließlich ein bisschen durch, um ihn wach zu bekommen. »Na, komm schon. Wir müssen dringend weiter.«
Erschrocken klappte Ray die Augen auf, sein ganzer Körper spannte sich, und dann riss er kampfbereit die Fäuste hoch.
Ich hockte mich neben ihn. »Bist du jetzt bereit, friedlich mitzukommen? Oder sollen die Vampire dich auf einen weiteren Freiflug mitnehmen?«
»Hannon«, brachte er krächzend heraus, heiser, als ob
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