Halbmondnacht
ziemlich hässlich werden.«
Mit dem letzten Rest bewussten Seins übergab ich meiner Wölfin die Kontrolle. Als unsere Energie ganz ihr gehörte, stieß sie ein wildes Heulen aus, und während sie das tat, spürte ich, wie ich den Mund öffnete und mir das eigene Geheul fast das Trommelfell zerriss. Es war furchterregend.
»Ach, du meine Fresse!« Über dem Geheul, das mir in den Ohren dröhnte, war Tylers erschrockener Ausruf kaum zu verstehen.
Statt weiter nach den roten Linien zu schnappen, schloss meine Wölfin die Augen und sammelte ihre Kraft. Ich begriff sofort, wassie vorhatte. So rasch wie möglich versorgte ich sie mit all der Stärke und Energie, die ich noch hatte. Du musst dich beeilen. Ich kann nicht weitermachen; der Angriff ist zu viel für mich. Sie riss die Augen auf, hob die Schnauze und heulte schaurig. Mit dem Heulen strömte aus ihrem geöffneten Maul ein Strahl reiner Energie und explodierte in meinem Sein wie ein Feuerball. Mein Körper krampfte und zuckte, als würde ich mit dem Defibrillator geschockt. In Schockwellen lief die freigesetzte Energie durch mich hindurch; ihr weißes Gleißen verschlang die roten Linien wie ein Nuklearschlag Natur und Menschengemachtes. Ein Energiestoß reichte, und meine Adern, mein ganzer Körper und mein Verstand waren von dem Rot gereinigt. Die Freisetzung dieser enormen Kraft gab mir ein bisher nie gekanntes Hochgefühl.
Ich schlug die Augen auf.
Es war dunkel, und ich lag auf dem Rücken.
Von dem Rot, das mir Sicht und Verstand vernebelt hatte, war nichts geblieben. Ich setzte mich in meiner Lykanergestalt auf, halb Mensch, halb Wolf.
»Herr im Himmel, Hannon«, flüsterte Ray heiser. Sein Tonfall verriet Ehrfurcht ebenso wie Abscheu. » Was bist du?«
»Ich bin eine Lykanerin, Ray.« Meine Stimme klang, als hätte jemand Steine in den Abfallzerkleinerer in der Küchenspüle geworfen. Die Atemluft kratzte über meine arg beanspruchte, wunde Kehle.
Danny wagte sich als Erster einen Schritt vor. »Dieses Mal bist du komplett rot angelaufen. Das war ein bisschen zu knapp, um noch als okay durchzugehen.«
An der Grenze zum Wald entstand plötzlich Bewegung. Mein Kopf fuhr zu dem Geräusch herum. All meine Sinne waren immer noch in voller Alarmbereitschaft.
Meine Wölfin knurrte, und ihr Knurren kam aus meiner Kehle, laut, leicht kratzig. Wir waren nach wie vor eng verbunden; wir gehörten zusammen wie zwei Augen im selben Gesicht.
Als Erste trat Naomi aus dem Wald. Sie stand in einem Streifen blassen Mondlichts. Ich musste länger nicht bei mir gewesen sein, als es sich angefühlt hatte. Denn statt Dämmerung herrschte jetzt die Dunkelheit der tiefsten Nachtstunden. Naomi setzte ihre Schritte vorsichtig und zögerlich, als sie auf mich zukam; ihr Gang hatte etwas geradezu Tastendes. Eamon trat hinter ihr aus dem Schutz der Bäume und folgte ihr langsam. Ihren Mienen nach hatten sie mein Zwischenspiel vom Wald aus beobachtet. Sie mussten gerade in dem Augenblick gelandet sein, in dem Selenes Zaubermacht mich überfallen hatte.
»Du hast gegen Selenes Todesbann gekämpft. Ich habe ihn an den roten Linien erkannt, die deine Haut überzogen haben. Dieser Zauber ist sehr mächtig«, sagte Eamon leicht vorwurfsvoll. »Eigentlich müsstest du tot sein.«
Ich blickte auf meine Hände herab, die nicht mehr länger rot, dafür jedoch mit rauchgrauem Fell überzogen waren, Klauen hatten statt Fingernägel. »Ganz eindeutig bin ich nicht tot.« Ich stand auf und zeigte mich in meiner ganzen Größe, die recht beachtlich war. Selene geschlagen zu haben fühlte sich fantastisch an. »Und nur, damit du Bescheid weißt: Ihr Zauberbann über mich ist damit gebrochen.«
»Sie ist die Mächtigste ihrer Art, möglicherweise die mächtigste Übernatürliche auf der ganzen Welt. Es sollte dir nicht so leicht fallen, ihre Herrschaft über dich so mir nichts, dir nichts zu beenden.« Eamons Blick wanderte unstet umher, offenkundig war er verunsichert. »Dieser Todesbann ist aus ihrem ureigensten Wesen gewebt, kein zusammengemischter Zauber, den man mit den rechten magischen Worten heraufbeschwören kann. Eine Heilung davon gibt es nicht.«
»Eamon«, sagte ich geduldig, »augenscheinlich weißt du eine Menge über Selene. Aber du hast gerade mit eigenen Augen gesehen, was geschehen ist. Es spielt keine Rolle, ob der Zauber aus ihrem Wesen ›gewebt‹ ist oder nicht. Und offenkundig ist es auchnicht unmöglich, davon geheilt zu werden, denn mir ist es soeben
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