Halbmondnacht
nicht, dass wir uns einer Bedrohung gegenübersehen, ehe wir tatsächlich in Selenes Einflussbereich geraten«, meinte ich. »Sie wäre dumm, wenn sie uns kampflos so nah an ihr Territorium heranließe. Außerdem liebt sie Spielchen aller Art. Uns irgendein mysteriöses Hindernis in den Weg zu legen, hört sich ganz nach ihr an. Ab jetzt müssen wir besonders vorsichtig weitergehen.«
»Ich kundschafte den Weg noch ein Stück weiter aus.« Naomi wandte sich in Richtung einer breiten Schneise im Wald. Am Nachthimmel, der sich dort zwischen den Bäumen ausmachen ließ, prangten ein hell leuchtender Mond und eine ganze Schar glitzernder Sterne. Mit der Sehschärfe, die ich seit meiner Wandlung hinzugewonnen hatte, konnte ich nun Sterne ausmachen, die zu sehen mir zuvor nicht möglich gewesen wäre. Der Anblick war atemberaubend. Der Einzige von uns, der ernsthafte Schwierigkeiten hatte, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, war Ray.Er stolperte in einem Tempo hinter uns her, das halb so hoch war wie das, was wir bevorzugten. Dabei fluchte er ununterbrochen vor sich hin. Aber weil er uns freiwillig folgte, wollte ich mich deswegen nun wirklich nicht beschweren.
»Sei vorsichtig da draußen!«, rief ich Naomi hinterher. »Es könnte eine Falle sein.«
Naomi erreichte die Lichtung. » G leich, wenn ich auf die Lichtung hinaustrete, fliege ich hoch in den Himmel und sehe, was ich von dort oben aus entdecken …«
Doch in dem Moment, in dem sie den Wald hinter sich ließ, hüllte sie ein ganzer Schwarm kleiner, schwarzer Kreaturen ein.
Es waren geflügelte Wesen, die Naomi aufgeregt und mit raschen Flügelschlägen umflatterten. Ich rannte auf Naomi zu und rief: »Sind das Fledermäuse?«
Wenn ja, waren es sicherlich keine normalen Fledertiere.
Ehe ich begriff, was los war, und planvoll reagieren konnte, ließ Danny seinen Rucksack fallen und stürzte hinaus auf die Lichtung. »Verdammtes Viehzeug, lasst sie gefälligst in Ruhe, weg mit euch!« Er erreichte Naomi und riss die angreifenden Biester, die sich an ihr festgebissen hatten, von ihr herunter. Und mit ihnen riss er Kleidung und Haut von Naomis Körper.
»Was sind das für Dinger?«, schrie ich Eamon an. Ich war jetzt ebenfalls am Waldrand angekommen und ließ mein Gepäck fallen. Wir mussten wissen, um was es sich handelte. Schließlich galt es, einen Weg zu finden, die angriffslustigen Tiere zu bekämpfen. Erst als Naomi die Bäume hinter sich gelassen hatte, hatten sie sich auf sie gestürzt. Irgendetwas musste sie zurückgehalten haben. Eamon stand wie erstarrt da und stierte hinüber zu seiner Schwester. »Eamon!«, brüllte ich. »Was sind das für Biester, verdammt?«
»Geflügelte Teufel.« Er antwortete so ruhig und leise, dass ich mich sehr anstrengen musste, um ihn zu verstehen.
»Was bitte?«
»Ihr korrekter Name lautet Camazotz , was übersetzt so viel bedeutet wie: ›Tote Fledermäuse der Unterwelt‹.«
Unterwelt? Diese Biester stammten aus der Unterwelt? »Wie können wir sie aufhalten?«, drängte ich ihn zu antworten.
Aber er schwieg. Also brüllte ich über die Schulter: »Ray, lauf zurück in den Wald! Such dir einen dicken Baumstumpf oder etwas Ähnliches und versteck dich darunter. Wir finden dich schon, wenn das hier vorbei ist.« Ich wandte mich an meinen Bruder, der ebenso hilflos wie ich am Waldrand auf eine Chance lauerte. Jetzt hatte ein Schwarm Fledermäuse auch Danny eingehüllt. Wenn wir hinaus auf die Lichtung rannten, fänden auch wir uns in null Komma nichts in einem Kokon aus bissigen Unterweltbiestern wieder. »Tyler, wir müssen etwas tun, um sie aufzuhalten! Hast du irgendeine Idee?«
Wir mussten mitansehen, wie Danny gegen die Unmengen von Angreifern kämpfte und versuchte, sie sich vom Körper zu reißen. Naomi brach zusammen und stürzte zu Boden, und Danny ging neben ihr in die Knie.
Ohne dass es mir bewusst war, tat ich einen unbedachten Schritt auf die beiden zu. Sofort schoss der Arm meines Bruders vor und hielt mich zurück. »Wir können da nicht hin.« Er packte mich am Unterarm; diesem Griff konnte ich mich nicht entwinden. »Sie haben Danny fast sofort eingehüllt. Wenn wir rausgehen, ergeht es uns ganz genauso. Damit wäre nichts gewonnen.«
»Was redest du denn da? Wir können die beiden doch nicht auf der Lichtung sterben lassen!«, beharrte ich dickköpfig. »Selene muss die Biester irgendwie in Schach halten. Hier im Wald greifen sie uns nicht an; also ist der Waldrand so eine Art Grenze, die
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