Halbmondnacht
riechen und schmecken. Mich schauderte. Der Steinkoloss kam schlitternd vor dem Bergkamm zum Stehen, unmittelbar vor der Steilwand der Schlucht. Eine falsche Bewegung, und wir beide würden doch noch in den Abgrund stürzen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, seinem Anderssein, seiner Andersheit nachzuspüren, die seiner äußeren Gestalt entsprach: Sein Wesen prägte dieselbe Wuchtigkeit und Masse, dieselbe Schwerfälligkeit und fehlende Beweglichkeit. Und dieselbe schiere Kraft.
Mit dem Zeigefinger bohrte ich tiefer in den Schädel hinein, schnippte mit dem Finger gegen das ureigenste Wesen des Mahracs. Er heulte auf.
Dann fühlte ich noch etwas.
Es lag über der Andersheit des Steingeschöpfs wie ein dicker Mantel oder ein klebriger Film aus Schleim. Im Geiste sah ich es vor mir: Tiefrot war es und pulsierte gefährlich. Es zwang sich ihm auf, zwang ihn unter seinen Befehl. Selene . Das hier war ihre Zaubermacht, ein Fremdkörper, der sich wie eine Krankheit in die Andersheit des Mahracs fraß.
Etwas in mir, tief in meiner Seele, bäumte sich auf, meldete sich mit derartiger Wucht, dass ich vor Überraschung und Bestürzung fast losgelassen hätte. Alles in mir wünschte sich, das Böse, das das Steingeschöpf infiltriert hatte, zu zerschmettern, es mit Stumpf und Stiel zu vernichten. Mein Zorn über Selenes magische Manipulation des Mahracs war maßlos, nicht in Worte zu fassen. Ganz instinktiv griff ich nach der Andersheit des Geschöpfs, umschloss so viel von seinem Wesen mit der Hand, wie ich nur konnte. Dann sammelte ich die gleißende Energie, mit der ich aus der Schatulle gespeist worden war, und ließ sie wie einen Blitz auf das bisschen Lebensenergie herniederfahren, das ich in meiner Hand hielt.
Ich musste es reinigen. Befreien.
Das Steingeschöpf krümmte sich zusammen und fuchtelte wild mit den Armen, schlug um sich und stieß ein Grollen aus, laut wie Donnerschlag. Mein Licht umgab nun die ganze Gestalt. Wie die Schockwelle einer Explosion durchfuhr mich Energie. Mein Kopf wurde zurückgeschleudert; ich biss die Zähne zusammen und kniff fest die Augen zu; ich konnte nicht anders.
Dann herrschte plötzlich Stille.
Das Licht in mir brach, löste sich auf, verschwand, als hätte Dunkelheit es schlagartig verschluckt.
Ohne jede Vorwarnung warf der Mahrac mich ab. Ich verlor den Halt, versuchte nicht einmal mehr, mich an ihm festzuklammern. Hart schlug ich auf dem Boden auf. Ich war so glücklich, dem Riesenbiest nicht mehr im Nacken zu hängen, dass ich nicht einmal daran dachte, auf die Füße zu springen.
Der Mahrac tauschte einen einzigen Blick mit mir, ehe er sich umdrehte und sich über den Bergkamm und damit in die Tiefe stürzte.
Erleichterung oder Siegesfreude? Keine Chance. Ich war schweißgebadet und vollkommen am Ende.
Und überall an mir hingen geflügelte Teufel.
KAPITEL DREIZEHN
D ie vermaledeite Höllenbrut schlug mir die Zähne ins Fleisch und schleckte mit gierigen Mäulern mein Blut. Meine Glieder waren schwer vor Erschöpfung. Ich war wirklich unglaublich müde. Ich schüttelte mich, aber kein einziges der Biester ließ los. Meine Wölfin knurrte und blaffte. Sie wollte, dass ich mich endlich in Bewegung setzte. Ich weiß, ich weiß. Schon gut. Augenblicklich schoss mein Adrenalinspiegel in die Höhe, meine Synapsen feuerten, meine Nervenbahnen leiteten Befehle weiter, und ich stand auf.
Ich war immer noch in meiner Lykanergestalt. Überraschenderweise spürte ich trotz der unzähligen Bisse keinerlei Schmerz. Nach dem, was ich Danny und Naomi hatte durchmachen sehen, hatte ich mit qualvollen Schmerzen gerechnet. Warum tut es nicht weh?
Einer der geflügelten Teufel, der sich an meinem Arm gütlich getan hatte, viel plötzlich zu Boden.
Im nächsten Moment löste sich das Biest auf. Es blieb nur ein schwärzlicher Schmierfleck zurück.
Hast du das gesehen?
Weitere Biester fielen von mir. Jedes zischte und kreischte kurz auf, ehe es starb.
»Jessica!«, schrie Tyler. »Wenn du nicht sofort herkommst, komme ich und hole dich!«
Erstaunt blickte ich auf. Er tat bereits den ersten Schritt aus dem Wald heraus. Ich war froh, ihn auf den Beinen zu sehen, wollte aber auf gar keinen Fall, dass er mich holen kam. »Nein!«,rief ich. »Tyler, bleib stehen! Siehst du denn nicht, was passiert? Sie sterben.« Ich zeigte auf den Boden, als das nächste von den Biestern von mir abfiel. Dieses krümmte und wälzte sich ein paar Mal hin und her, ehe es eine Art
Weitere Kostenlose Bücher