Halbmondnacht
Blick war unstet, zuckte wie bei einem Vogel nervös hin und her.
Mein Blut sollte genug Macht besitzen, um das Band zwischen einer Königin und ihrer Untertanin und Untergebenen aufzulösen? Heiliger Strohsack! Dazu in der Lage zu sein, war schon ein ganz anderes Kaliber als der Austausch von Blut mit einem Wolf, der immerhin von der gleichen Art war. Dem Anschein nach hatte Naomi schon lange mit sich gerungen, ob sie mir erzählen sollte, welchen Effekt mein Blut auf sie hatte. Nach Eamons harscher Reaktion hatte sie sich endgültig auf meine Seite geschlagen und war nicht mehr bereit, den Wünschen ihres Bruders nachzugeben. War das Band zwischen Königin und ihr tatsächlich gelöst, würde man sie töten oder zwingen, sich wieder an die Königin zu binden, sobald diese es herausgefunden hätte.
Mir verschlug es die Sprache.
» Alors , dein Blut hat mich aus einer Bindung befreit, die für mich nicht länger erstrebenswert war«, fuhr Naomi fort. Mit jedem weiteren Wort gewann ihre Stimme an Kraft und Selbstbewusstsein. »Meine Beziehung zur Königin war nie unbelastet. Der langen Zeit wegen, die ich in Selenes Nähe verbracht habe, habe ich mich nie wie ein normaler Vampir benommen. Daran haben auch all die vielen Jahre am königlichen Hofe nichts geändert. Während der ersten Zeit nach der Umwandlung verliert der neugeborene Vampir einen Teil seiner Menschlichkeit. Die Königin oder der Hüter beziehungsweise die Hüterin haben die Aufgabe, den gewandelten Vampir neu zu formen. Normalerweise reagieren wir aufgrund der Gnade, die uns so zuteilwird, regelrecht hingerissen auf unseren Hüter, denn er gibt uns Nahrung und Schutzwie eine Mutter oder ein Vater. Diese Phase der Prägung haben Eamon und ich nicht durchlaufen. Selene hat uns nicht genährt. Daher habe ich auch keine Bindung zu ihr entwickelt. Jetzt hast du mir eine Form der Freiheit geschenkt, die zu erlangen ich mir nicht habe träumen lassen. Ich werde für den Rest meines Lebens in deiner Schuld stehen.«
»Äh, ähm«, stammelte ich. Wie um Himmels willen reagiert man denn auf so etwas? »Tja, oo-okay.« Ich machte eine unbestimmte Handbewegung, die alles und nichts in unserer unmittelbaren Umgebung einschloss. Eine Übersprunghandlung, weil mir partout nichts Sinnvolles einfallen wollte. »Tja, dann sollten wir uns wohl zunächst gegenseitig versprechen, dass die ganze Geschichte fürs Erste unter uns bleibt.« Dass ich jetzt mächtig unter Druck stand, war meiner Stimme anzuhören. »Wenn deine Königin oder andere Vampire erfahren, wozu mein Blut in der Lage ist, ist schneller ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt, als ich Piep sagen kann, verstehst du?«
»Naturellement« , bestätigte Naomi. »Von nun an bin ich dir und nur dir gegenüber loyal. Ich stehe, wie schon gesagt, tief in deiner Schuld, und es ist für mich eine Frage der Ehre, diese Schuld bis zum Tag meines wahren Todes abzutragen.« Sie machte Anstalten, das Knie vor mir zu beugen.
»Halt, warte, gib uns ’ne Sekunde, ja?«, sagte ich hastig und eindeutig kurz vor einer Panik. Naomi erstarrte mitten in der Bewegung. Über unsere Gedankenverbindung suchte ich Hilfe bei meinem Bruder. Das kann doch alles nicht wahr sein! Tyler, was soll ich denn jetzt bloß tun? , jammerte ich. Wir müssen das irgendwie in Ordnung bringen. Wenn ich Vampiren die Freiheit geben kann und sie sich entscheiden, mir dafür Treue zu geloben, zettle ich damit einen schrecklichen Krieg an. Und dieser Krieg endet erst, wenn man mich vom Antlitz der Erde getilgt hat.
Jess. Tyler klang so kaltblütig und gelassen wie erhofft. Genau das brauchte ich jetzt: Kaltblütigkeit und Gelassenheit. Hör dir g enau an, was sie dir zu sagen hat. Sie sagt, sie schulde dir viel. In unserer Welt bedeutet, jemandem etwas schuldig zu sein, eine absolut bindende Verpflichtung. Sie wird dich jetzt nicht mehr verraten oder im Stich lassen. Wir behalten das schön für uns und sehen zu, wie wir das Ganze regeln, wenn wir wieder zu Hause sind. Deine Kräfte scheinen tatsächlich, nun … unglaublich zu sein. Sehr viel größer, als wir alle gedacht haben. Wir sollten so schnell wie möglich herausfinden, zu was du alles in der Lage bist. Und dann sollten wir diese Kräfte so einsetzen, dass niemand mehr das Bedürfnis verspürt, dir ans Bein zu pinkeln. Und zwar ganz egal, was passiert.
Während ich mich noch mit Tyler unterhielt, hatte sich Naomi vor mich gekniet. Sie wisperte Worte, so leise, dass es kaum zu verstehen war:
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