Halbmondnacht

unruhiger geworden. Nimm als Beweis nur, dass meine Königin ein Gefolgschaftsgelöbnis von euren abtrünnigen Wölfen angenommen hat. Die Zauberer sind hochgradig nervös, und die Hexen reagieren gereizt. Dämonen-Lords verlassen die Unterwelt. All das deutet auf einen großen Aufstand hin. Unsere Zukunft wird aus vielen Kämpfen und Schlachten bestehen, bis sich alles endlich wieder beruhigt. Ich glaube, dass du diejenige bist, die alles wieder zur Ruhe bringt.«
    »Was?«, keuchte ich. »Wie soll ich, ausgerechnet ich, einen Krieg zwischen den Gemeinden beenden? Das kann ich nicht, unmöglich. Ich bin ja vielleicht stark, aber so stark nun auch wieder nicht.«
    » Non« , widersprach mir Naomi voller Zuversicht. »Du bist hier, damit dieser Krieg fair abläuft. Du wirst dafür sorgen, dass alle Seiten nach denselben Regeln spielen. Mit oder ohne dich: der Krieg wird stattfinden. Die Gemeinden der Übernatürlichen sind zu groß geworden, und es ist viel zu viel und viel zu mächtige Magie im Spiel. Wir sind nicht länger zu bändigen. Daher können wir auch nicht mehr lange unter den Menschen leben, ohne dass es zu einer Katastrophe kommt. Es wird Krieg geben, das steht außer Frage. Die Koalition wird erwachen, und eine neue Ordnung wird errichtet. Die Zeit dafür ist gekommen.«
    »Woher willst du das wissen?«, fragte ich. »Hast du vielleicht das zweite Gesicht? Niemand, der in die Zukunft schauen kann, sieht so viel Konkretes voraus.«
    »Ich weiß das alles, weil ich die Prophezeiung gelesen habe.«
    Das haute mich buchstäblich um: Ich ließ mich auf einen großen Felsvorsprung neben mir plumpsen.
    Alle traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, aber keiner sagte ein Wort. Irgendwann im Zuge unseres vor Neuigkeiten nur so strotzenden Gesprächs hatte Ray sich einen Weg den Steilhang hinunter gesucht und sich auf dem äußeren Ende des Felsvorsprungs niedergelassen. Fell sträubte sich an meinen Armen, und mir waren wieder Reißzähne gewachsen. Ich war sehr aufgewühlt. Naomi zu fragen, auf welche Prophezeiung sie sich bezog, war überflüssig. »Es gibt eine Niederschrift der Prophezeiung, ja?«, erkundigte ich mich stattdessen.
    »Oui« , erwiderte sie. »Als ich sie das erste Mal rein zufällig zu Gesicht bekam, hatte ich den Eindruck, dass sie sehr alt war. Selene hatte mich damals beauftragt, eine der Drei Seltsamen Schwestern zu fangen, weil sie mehr über ihr Schicksal zu erfahren wünschte. Sie dachte, das dürfte in etwa so leicht sein wie einen Apfel von einem Baum zu pflücken.«
    »Was dann wohl heißen soll, dass sie sich, was das angeht, gewaltig geirrt hat.«
    » Exactement. Es hätte mich beinahe das Leben gekostet. Aber ehe die Seltsame Schwester, eine wahrhaft mächtige Hexe, mich wieder freigelassen hat, hat sie mir die Prophezeiung gezeigt. Sie hatte mich einen Zaubertrank leeren lassen, der es mir möglich gemacht hat, die alte Handschrift zu lesen und die Sprache, in der sie verfasst war, zu verstehen. Dann hat sie mir eröffnet, dass mich ein Schlüsselerlebnis erwarte, wenn ich befreit würde. Von da an hätte ich die Freiheit zu wählen. Ich könnte wählen, mein Leben selbstbestimmt zu führen. Ich könnte aber mein Leben auch jemandem weihen, und dann würde ich miterleben, wie alles Fehlerhafte dieser Welt in Ordnung kommen würde. Würde ich mich für Ersteres entscheiden, verbrächte ich mein Leben damit, nach etwas zu suchen, das ich vielleicht nie fände. Bis zum heutigen Tag«, Naomi neigte den Kopf, »war ich davon überzeugt, ich hätte meine Freiheit erlangt, als ich Selene entkommen war, und mit dem freiwilligen Gefolgschaftsgelöbnis der Vampirkönigin gegenüber hätte ich ihr mein Leben geweiht. Jetzt aber ist mir klar, dass damit das Treueversprechen gemeint war, das ich dir gegeben habe. Leib und Seele wissen es, und ich habe mich ohne jeden Vorbehalt dir und deiner Sache freiwillig verschrieben.«
    Ein gemeiner Curveball mit viel Effet, den mir das Leben da zuwarf. Eine Herausforderung für jeden Schlagmann, egal, wie gut er war.
    Ich atmete einmal tief durch und strengte mich wahnsinnig an, um mich endlich wieder zu beruhigen. Die Prophezeiung war echt. Mein Schicksal ändern zu wollen, wäre ein unsinniges Unterfangen, so sehr ich es mir auch wünschte. Ich verdrängte die Gefühle, die auf mich einstürzten. Fast widerwillig veränderten sich daraufhin meine Gesichtszüge, und ich war wieder ganz Mensch. Ich hatte es mir eingestanden: Es gab nichts, was