Halbmondnacht
Lidschlag bestehen. Sie wird Ray hinabgezogen und ihm bereits den letzten Atem gestohlen haben. Najaden gieren nach Leben und stehlen es mit Wonne. Wir sehen deinen Freund nie wieder.« Traurig schüttelte Naomi den Kopf.
»Keinen Schimmer, was Najaden sind«, meinte Danny nun, »aber das Geschöpf, das ich gesehen habe, war abgrundtief hässlich.« Danny schauderte es. »Es war sicher über zwei Meter groß und hatte glibberiges Algenhaar. Seine Haut sah grau aus, als wäre sie tot und abgestorben, und sie schälte sich auch überall ab. Seine Arme waren doppelt so lang wie der Wassergeist groß. Hätte der mich gepackt, ich hätte mich augenblicklich zum Wolf gewandelt und dem Ding den Kopf abgebissen.«
»Außerhalb des Wassers sind Najaden abstoßend und hässlich«, erklärte Naomi nun. »Aber unter Wasser sind sie atemberaubend schön. Schön wie Nymphen mit langem fließendem Haar und engelsgleichen Gesichtern. Nur ihre Arme stören das Bild. Denn sie sind zweimal so lang wie der Körper. Najaden nähern sich ihrer Beute unter Wasser und bannen diejenigen mit ihrem Blick, die sie anschauen. Sie überzeugen ihre Opfer davon, zu ertrinken und Hilfe nötig zu haben. Alle, die Selene gedient haben, haben sich von ihnen ferngehalten und Wasser stets gemieden.«
»Wenn diese Najade außerhalb des Wassers nur ein paar kostbare Augenblicke überleben kann, stirbt sie dann, wenn wir sie an Land bekommen?«, fragte ich. Niemand sagte ein Wort. »Ja oder nein?«
Sorgenvoll verzog Naomi den Mund, eine Mimik, die so menschlich war, dass es an ihr seltsam wirkte. »Ja. Theoretischstimmt das. Aber Najaden sind stark. Es dürfte sehr schwierig werden, sie ihrem gewohnten Lebensraum zu entreißen. Es ist nicht so leicht, wie du es dir vielleicht vorstellst, und glaub mir, dein Freund ist längst tot. Wir sollten keinen Streit mit ihr suchen, jetzt, wo sie uns in Ruhe lässt, sondern unser Augenmerk darauf richten, Selene zu besiegen. Dann sind alle Zauber, die sie gewirkt hat, null und nichtig. Was sie an Geistern unter ihrer Kontrolle hat, wird frei sein. Sollten wir gezwungen sein, später wieder diesen Weg zu nehmen, dürfte die Najade kein Interesse an uns zeigen, wenn wir nicht in ihr Reich eindringen.«
Genau vor uns begann das Wasser wieder zu gurgeln und zu sprudeln. Augenscheinlich fand unter der Wasseroberfläche ein Kampf statt; jemand schien um sich zu schlagen. »Schaut doch, wie das Wasser aufgewühlt wird!«, rief ich. »Ray muss noch am Leben sein.« Ehe ich mich versah, war ich schon drauf und dran, ins Wasser zu springen. Meine Wölfin wollte mich daran hindern und knurrte heftig. Nein. Wir lassen ihn nicht zurück. Er verdient zu leben, nicht weniger und nicht mehr als wir.
»Jessica!«, brüllte mein Bruder und stürzte auf mich zu. »Tu’s nicht!«
Ich jedoch tauchte schon mit einem Kopfsprung ins Wasser.
Vorhin noch war mir der Fluss an dieser Stelle nicht tief erschienen. Aber kaum dass ich die Wasseroberfläche durchstoßen hatte, begriff ich: Das war kein normaler Fluss. In seinen Tiefen weitete er sich zur Unterwasserhöhle und damit zum See. Was uns als Ufer erschienen war, waren schmale, dünne Felsplateaus, die in die Schlucht hineinstachen und den See optisch zu dem Fluss verengten, der er gar nicht war.
Das Wasser glühte.
Die Quelle des merkwürdigen Lichts musste sich unter einer der Felslippen befinden, die das Ufer bildeten. Welcher Art diese Quelle aber war, wusste ich nicht zu sagen. Das Licht, das von ihr ausging, war grün und brachte das Wasser zum Glühen. Vielleicht etwas Phosphoreszierendes. Mit kräftigen Schwimmstößen tauchte ich tiefer und entdeckte die Najade mit ihrer Beute Ray. Sie hielt ihn am Nacken gepackt und tauchte sehr schnell tiefer. Ray wehrte sich gegen seine Peinigerin und zwang sie so, immer weiter hinabzutauchen. Offenkundig verstand er es, mit seinen Fäusten auszuteilen. Der Najade floss etwas Grünes aus einem Auge und sie schien höchst aufgebracht. Als ich einen weiteren Schwimmstoß aufschloss, drehte sie den Kopf und zeigte mir zwei Reihen spitzer Zähne, wie sie einem großen Raubfisch gut zu Gesichte gestanden hätten.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich wohl den Atem anhalten konnte. Aber ich war merkwürdig sicher, dass ich nicht ertrinken würde. Aus Sauerstoffmangel ohnmächtig zu werden schien allerdings unter den momentanen Umständen auch keine gute Idee zu sein.
Ich folgte der Najade, die mein Bemühen, zu ihr aufzuschließen, mit
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